© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Der Kern des Eigenen
Ausweitung der Kulturkreise: Zur Aktualität von Oswald Spenglers Prophezeiungen
Günter Zehm

Viel ist jetzt vom „Dialog der Kulturen“ die Rede, auch vom „Krieg der Kulturen“. Was aber ist eine Kultur? Es hat sich da ein Klischee, eine Art Puppenstuben-Perspektive herausgebildet, derzufolge Kultur das sei, womit man das Leben ausstaffiert, es verschönt, ihm „Geschmack“ verleiht. Wichtiger, „eigentlicher“ als Kultur sei allemal „Zivilisation“, verstanden als das Insgesamt technisch-wissenschaftlicher Lebensprägung.

Zivilisation sei primäre Welt, Arbeitswelt, wo Verträge abgeschlossen und Bürokratien aufgebaut werden, Kultur sei sekundäre Welt, Freizeitwelt, wo es weniger auf Verträge und Bürokratien als auf Volkstanz und Götterglauben ankomme. Kultur sei im Grunde „vormodern“, wer sich auf Kultur berufe, der habe den Prozeß der Zivilisierung, der Technifizierung und Modernisierung noch vor sich. Der „Krieg der Kulturen“ sei im wesentlichen ein Krieg der Moderne gegen die Vormoderne.

Auch Samuel Huntington, der zur Zeit so häufig zitierte amerikanische Spengler-Schüler, huldigt - wenigstens partiell - diesem Denkschema. Für ihn ist Kultur „Traditionsbestand“, etwas, womit man zwar rechnen müsse, das dem einzelnen Individuum letztlich aber dennoch äußerlich sei, erwachsen aus regionalen Zufälligkeiten, aus Eigenheiten der Landschaft und des Klimas. Huntington möchte Oswald Spengler gewissermaßen mit Adam Smith und Montesquieu versöhnen, wie das früher schon einmal Arnold Toynbee versucht hat, die Gestaltlehre mit der Klimaforschung.

Ob das die richtige Wegweisung ist, um mit den neuen Herausforderungen zurechtzukommen? Oder müssen wir zurück zu Spengler selbst, dessen Kulturbegriff viel ausgedehnter und viel ernster war? Für den deutschen „Morphologen“ war Kultur nie und nimmer ein Zusatz oder ein Beiwerk oder eine Akquisition, sondern die Sache am Ursprung, von der jede Menschenprägung ausging. Der Mensch, lehrte er, ist ein Naturwesen wie Pflanze und Tier, aber seine Natur, seine „Morphé“, seine Gestalt, ist eben die Kultur. Und so, wie jede Pflanze und jedes Tier ihre ganz spezifische Gestalt haben, so hat jeder Mensch seine spezifische Kultur.

Alles, was innerhalb einer Gestalt wächst und sich entfaltet, entfaltet sich nach spezifischen Daseinsprinzipien und muß vorrangig aus der betreffenden Gestalt heraus interpretiert werden. Alles an einer Gestalt ist Geschichte und gehört in den Kontext dieser einmaligen Gestaltgeschichte. „Kultur“ im populären Verständnis, also der bestimmte Lebensstil einer Gruppe, eines Stammes, eines Volkes, ist immer nur Kultur-„Kreis“ um die Gestalt herum, ihre Aura, ihre Ausdünstung, wenn man will. Je enger der Kreis, um so kraftvoller die kulturelle Gestalt. Die primären Institute individueller Sozialisation, Familie, Stamm, Volk, sind in jedem Fall kulturhaltiger (und folglich lebenskräftiger) als die ferner stehenden Institute der Zivilisation wie Vertragswelt und Bürokratie.

Natürlich berühren und durchdringen sich die einzelnen Kulturkreise, überlappen sich auch, räumlich wie zeitlich. Doch der aufmerksame Hermeneutiker wird stets eine kulturelle Kernzone ausmachen, die gestalthaft aus sich selbst lebt, die sich von außen allenfalls vernichten, nie aber grundlegend ummodeln läßt, die also eine fensterlose Monade im Sinne von Leibniz ist.

Jeder Kulturkreis ist ein Lebewesen, das geboren wird, Jugend, Hochblüte und Vergreisung durchmacht und schließlich stirbt. Die Zivilisation aber, wie sie sich vor allem in der Erreichung eines gewissen technisch-industriellen Niveaus ausdrückt, ist nicht, wie sich das Voltaire und andere Aufklärer dachten, Höhepunkt einer historischen Entwicklung, sondern bereits Abstieg, Vergreisung, Dekadenz.

Höhepunkt einer Gestaltkultur und natürlich noch mehr ihre Jugend werden - Nietzsche läßt grüßen - markiert durch eine gewisse antizivilisatorische Aggressivität, eine gewisse Ungehobeltheit, ein siegesgewiß polterndes Barbarentum, durch kecke Ausgriffe ins Unerwartete, Ungeregelte und Ungehörige. Die Pointe des berühmtesten Spenglerschen Buches, „Der Untergang des Abendlandes“ von 1918, mit dem er Sensation machte, lag ja gerade darin, daß dem Abendland, der westlich-faustischen Industrie- und Demokratie-Zivilisation, vorgehalten wurde, daß es zu wenig gesundes Barbarentum verkörpere, daß es sich also auf dem absteigenden Ast befinde und bald von jüngeren Kulturkreisen an den Rand gedrängt und begraben werde.

In den konkreten Voraussagen, wer genau das Abendland beerben werde, blamierte sich Spengler gründlich: Er hielt Rußland für den Kulturkreis, der demnächst am kräftigsten aufblühen werde, und empfahl den Deutschen, sich gerade noch rechtzeitig vom Westen abzukoppeln und sich in Form eines „preußischen Sozialismus“ an Rußland anzunähern. Das wirkt aus heutiger Perspektive recht komisch, auf jeden Fall tragikomisch.

An der Bedenklichkeit der Spenglerschen Prophetie ändert es aber wenig. Wenn westliche Prognostiker in der Spur Francis Fukuyamas heute behaupten, die Weltgeschichte biege gerade in ihre Zielgerade ein und nähere sich mit Windeseile ihrer eigentlichen Bestimmung, nämlich dem amerikanischen Demokratie- und Wirtschaftsmodell, so genügt ja schon die simpelste Beobachtung der Tagespolitik, um solche Aussagen zu relativieren. Dazu war nicht einmal der 11. September 2001 nötig.

Statt daß sich die Ströme und Gestalten der Geschichte zu einem einzigen Strom „Globalisierung“ zusammenfinden, gewahren wir immer neue Kontraktionen und Individuationen, immer neue Gestalten und sich formierende Kulturkreise, und diese Gestalten und Kulturkreise scheinen keineswegs gewillt, unser westliches Zivilisationsmodell blindlings zu übernehmen oder auch nur als Generalvorbild zu akzeptieren. Im Gegenteil, das Kulturkreisdenken unterminiert zusehends das westliche Zivilisationsmodell, dem Internet und seinen weltweiten Infoströmen zum Trotz.

Je lauter und insistenter sich die Fukuyamas bemerkbar machen, um so größer und bedrohlich-blindwütiger wird der Widerstand. Bescheidenheit, Höflichkeit, glaubhaft bezeugter Respekt vor den Gestalten und Kulturkreisen sind angesagt, auf allen Seiten, in möglichst allen Lebenslagen, auf allen Kanälen und Websites. Denn wie gesagt, das je Eigene der lebendigen Gestalten und Kulturen kann nicht umgemodelt und gleichgemacht werden, es kann höchstens vernichtet und dem Erdboden gleichgemacht werden. Und das will hoffentlich niemand.

 

Prof. Dr. Günter Zehm lehrt Philosophie an der Universität Jena.


 
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