© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   45/01 02. November 2001


Rechtsstaat in Not
Enteignungen: Politik und Justiz stehen seit 1990 im Zwielicht
Manfred Graf v. Schwerin

Viel wird in diesen Wochen über den sogenannten „Ernstfall“ geschrieben und gesprochen. Da ist vom bevorstehenden „militärischen Ernstfall“ die Rede, die unerwartete politische Herausforderung für die rot-grüne Regierung wird thematisiert, und eine große deutsche Tageszeitung kommentierte die Fassade der Solidarität mit den USA als „grünen Ernstfall“.

Zum bevorstehenden zwölften Jahrestag des Mauerfalls am 9. November und damit des Untergangs der SED-Gewaltherrschaft gibt es leider - auch wegen des alles beherrschenden Terrorismus-Themas - wenig Hoffnung in bedeutender Sache. Denn weder wird der „deutsche Ernstfall“, der die Zukunft des deutschen Rechtsstaats im Kern betrifft, in seiner Tragweite von der Öffentlichkeit erkannt, noch werden die tiefgreifenden Folgen für Recht und Freiheit des bedrohten Gemeinwesens analysiert. Die Rede ist von dem bis heute andauernden Unrecht der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone.

Seit der Erfindung der angeblichen Vorbedingung als Preis für die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung - in die Welt gesetzt von Kohl, Waigel, Schäuble und ihren Statthaltern zwecks fortwirkender Einbehaltung fremden Eigentums und der Nicht-Wiedergutmachung von schweren Verbrechen und großem Unrecht - ist eine ganze Serie von Rechtsbrüchen entstanden. Schrittweise und mit Beschleunigung setzt sich seither die Erosion des Rechtsstaats im neuen Deutschland fort.

Außer dem Fiskus und einer kleinen Schicht von Wende-Gewinnlern haben alle bisher das Nachsehen: die politisch Verfolgten, das vertriebene Bürgertum, Mittelstand und Handwerk, Landwirte und echte Bauern. Vor allem aber leidet der vielbeschworene „Aufschwung Ost“- und die Bundesbürger wundern sich über die schwachen Ergebnisse und jetzt sogar wirtschaftlich wie politisch rückläufigen Tendenzen trotz der Transfers von Steuergeldern in Billionenhöhe.

Das ganze wäre trotz allem weniger folgenreich, läse sich nicht die Chronik der sich negativ steigernden Urteile und Beschlüsse höchster Gerichte wie ein Sammelsurium politischer Gefälligkeiten. Wenn seriöse Beobachter (FAZ, Die Welt, u.a.) und vor allem maßgebliche Wissenschaftler, insbesondere Staats-und Völkerrechtler, von „politischen Urteilen“, „eindeutig rechtswidrigen Entscheidungen“ und sarkastisch vom „neuen Recht nach Kassenlage“ sprechen, so wird eigentlich überdeutlich: Es gibt ernste Probleme beim Funktionieren der lebenswichtigen Gewaltenteilung in unserem Lande!

Mit der rechts- und grundgesetzwidrigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (dem sogenannten Herzog-Urteil) - sie wurde mit der falschen SED-Bezeichnung „Bodenreform-Urteil“ definiert - begann der dramatische Niedergang in der höchstrichterlichen Rechtsauslegung: Rechtsfrieden kann und wird nicht wieder einziehen, solange im Keim das Herzog’sche Denken besagt: Weil der Fiskus und die Justiz den völlig ungleich Behandelten keine Wiedergutmachung oder Restitution ihres konfiszierten Eigentums gewähren wollen, haben die Opfer und Geschädigten kein Recht. Besonders deutlich wird dies in der geradezu makabren Fehlentscheidung des „Papier-Senats“ in Karlsruhe, bei der je nach Parteibuch der Richter mit Stimmengleichheit selbst der unzweifelhafte Anspruch auf minimale Verbesserung von Ausgleichsleistungen für die ungleich Behandelten der Konfiskationen mit dem (falschen) Argument der Kassenlage des Fiskus aufgrund der Intervention der Bundesregierung abgelehnt wurde. Wie bei den Entscheidungen von 1991 und 1996 wurden die politischen Vorwände aus der Politik in die „Urteilsfindung“ transportiert. Entscheidende Gesichtspunkte, zum Beispiel die Bestimmungen des Völkerrechts, wurden kurzerhand ausgeblendet.

Wenn auch Präsidentin Jutta Limbach anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens und der damit verbundenen Selbstbeweihräucherungen in Karlsruhe meinte, die ganze Welt beneide uns um die Institution des Bundesverfassungsgerichts und seines „segensreichen Wirkens“: in keinem zivilisierten demokratischen Land gibt es eine mit deutschen Zuständen vergleichbare Richterwahl durch die politisch herrschenden Parteien und deren aktuelle und vordergründige Interessen.

Die juristisch wie politisch so fragwürdige Entwicklung hat bekanntlich für die meisten Geschädigten zur Erschöpfung der deutschen Rechtswege nach zehn Jahren unzumutbarer Bemühungen geführt. Kläger und Rechtsstaatler haben seit dem Jahr 2000 (in Luxemburg) und 2001 nun auch hinsichtlich der Verletzung der Menschenrechte (in Straßburg) die Verlagerung des Vorgehens gegen die Rechtsbrüche in Deutschland auf die internationale Ebene erwirkt. Zum zweiten Mal - seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen - sieht es so aus, als ob hier in Deutschland ohne Anstöße zur rechtlichen Korrektur von außen nicht die Kraft zur Schaffung von Rechtsfrieden und zur Erhaltung der klaren Rechtsstaatlichkeit aufgebracht wird. Zum dritten Mal in sechzig Jahren gerät Deutschland als Rechtsstaat ins Zwielicht - und damit neben der politischen Klasse auch die hohe Justiz in den Ruch des Opportunismus und der Aushebelung der Gewaltenteilung im demokratischen Staat.

Sollten die Hinweise richtig sein, daß die zu erwartenden Korrekturen des deutschen Unrechts aus europäischer Ebene unterlaufen werden sollen, indem das deutsche Eigentumsrecht vorsorglich gezielt durch eine Schuldrechtsreform ausgehöhlt wird, so zeigt sich, wohin die Reise führen kann: nämlich in den „deutschen Ernstfall“ für Recht und Freiheit. Das Grundgesetz sieht - wie man weiß - in Artikel 20 das Recht zum Widerstand vor. Die Verantwortlichen in Deutschland sollten es sich nicht zu leicht machen mit ihren Ausflüchten und Vorwänden: Die Fragen momentaner politischer Durchsetzbarkeit und fiskalischer Begehrlichkeiten gehen eben nicht dem Recht vor. Es ist und bleibt umgekehrt.

 

Manfred Graf von Schwerin ist Bundesvorsitzender der ARE-Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum-Allianz für Rechtsstaat und Erneuerung.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen