© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Der Stechlin-See Mittelasiens
Afghanistan als Spielball der großen Mächte und Seismograph der Weltgeschichte
Wolfgang Müller

Was haben der Stechlin-See und Afghanistan gemeinsam? Eine besondere Empfindlichkeit für Eruptionen. Von Theodor Fontanes sagenhaftem Gewässer heißt es, daß es Erdbeben in fernen Ländern durch Brodeln und Wellenschlag anzeige. Auch das große Lissaboner Erdbeben von 1755 habe er derart angekündigt. Ein Ereignis von so tiefgreifender Wirkung, daß Fontanes Romanfiguren dem See zutrauen, als Seismograph nicht nur Naturkatastrophen, sondern auch historisch-politische Umwälzungen, das „Anpochen der Weltereignisse“, vorzeitig registrieren zu können. Dank dieses geheimnisvollen Sees genoß der alte Dubslav in seiner tiefsten Abgeschiedenheit das Privileg, in die Werkstatt des Weltgeistes blicken zu dürfen. 1898, als Fontanes Alterswerk erschien, im Zenit des europäischen Imperialismus, konnte man das auch als frühe Globalisierungserfahrung lesen: Anders als zu Goethes Zeiten spielten sich „Krieg und Kriegsgeschrei“ nämlich nur noch geographisch „hinten, weit in der Türkei“ ab. Politisch und ökonomisch griffen die „Weltereignisse“ bereits in den europäischen Alltag ein - bis ins Leben der märkischen Provinz.

Der weltläufige Journalist Fontane hatte das früher als seine Landsleute erfahren. Er kam 1857 als Korrespondent der konservativen preußischen Kreuz-Zeitung nach London: pünktlich zu dem Zeitpunkt, als England unter größten Anstrengungen und Opfern in Indien einen Aufstand seiner eingeborenen Truppen, der Sepoys, mit größter Grausamkeit unterdrückte. Wie es der britische Premier Benjamin Disraeli (1804 - 1881) formulierte, war England, nachdem es knapp hundert Jahre und hundert Kriege benötigt hatte, um den indischen Subkontinent zu erobern, eine „asiatische Macht“ geworden. Mit der Folge, daß nicht nur jedes Kolonialscharmützel an den Ausschlägen der Londoner Börse abzulesen war. In viel umfassenderer Weise, so lautete 1937 die These des im Geiste Rankes erzogenen Historikers Hermann Oncken (1869-1945), habe die „Sicherheit Indiens“ die weltpolitischen Schachzüge Londons diktiert. Der aus einer oldenburgischen Kaufmannsfamilie stammende Oncken, der zu Beginn seiner Karriere an der preußischen Kriegsakademie lehrte und der während einer Gastprofessur in Chicago (1905) „dauerhafte Verbindungen und wissenschaftliche Interessen für die angelsächsische Welt begründete“ (Rüdiger vom Bruch), zählte zu den wenigen deutschen Historikern seiner Generation, die als Neorankeaner nicht nur vom „Primat der Außenpolitik“ überzeugt waren, sondern die das Spiel der „großen Mächte“ auch über die Ränder Europas hinaus aufmerksam verfolgten.

In Onckens Essay über das „Jahrhundert englischer Weltpolitik“, die zwischen 1815 und 1914 von der Sorge um die „Sicherheit Indiens“ bestimmt worden sei, fällt Afghanistan die Rolle eines überdimensionierten mittelasiatischen Stechlin-Sees zu. Die Beben, die das britische Empire, die - bis zum Aufritt der USA auf der politischen Weltbühne - größte Machtzusammenballung in der Weltgeschichte, hätten erschüttern können und manchmal auch erschütterten, kündigten sich im „Kriegsgeschrei“ zwischen dem Khyber-Paß und der Oase Herat an. Denn im Pufferstaat Afghanistan trafen die beiden expansivsten und aggressivsten Imperialismen des 19. Jahrhunderts aufeinander: Das russische Zarenreich einserseits, das sich über den Ural hinaus ausdehnte und sich die heutigen Frontstaaten Turkmenistan, Usbekistian und Tadschikistan unterwarf, schließlich fast vor den Toren Kabuls stand und damit aus Londoner Sicht das Einfallstor nach Indien besetzt hätte. Und andererseits England, das sich zur Vorwärtsverteidigung seines indischen Juwels entschlossen hatte und seine Truppen zwischen 1843 und 1856 gegen die noch selbständigen Fürstentümer im Nordwesten führte und Sind, Gwalior, Pandschab und Oudh sukzessive unterjochte, bis sie schließlich am Hindukusch, an Afghanistans Grenze, halt machten. Bereits 1835 war es den Russen gelungen, den Schah von Persien zu einem Vorstoß auf den in West-Afghanistan gelegenen Knotenpunkt Herat zu bewegen. Erstmals entspann sich damit ein Stellvertreterkrieg: die angreifenden Perser von den Russen befehligt, die verteidigenden Afghanen von den Engländern beraten: „Hinter den kämpfenden Parteien wurden schon die rivalisierenden Großmächte sichtbar“ (Oncken).

In diesen, sich bis 1842 hinziehenden Auseinandersetzungen, „an denen in englischen Diensten teilzunehmen den Tatendrang des jungen Bismarck reizte“, blieb den Russen ein Erfolg versagt. Aber seitdem stand die englische Politik unter dem Druck der Vorstellung, daß in Mittelasien eine unabsehbare Bedrohung schlummere. Eine „ewige Sorge um die indische Sicherheit, ja um die englische Weltstellung“ meldete sich an. Dabei blieb man in London im Ungewissen darüber, ob die Russen wirklich einen Weg zum Indischen Ozean suchten oder sie die afghanische Karte nur spielten, um ein ganz anderes, für die Briten aber nicht minder gefährliches Ziel zu verfolgen, die Herrschaft über die Dardanellen: „Vielleicht darf man hier das tiefste Geheimnis der russischen Außenpolitik im 19. Jahrhundert und eines der künftigen Zentralstücke der weltpolitischen Dynamik erblicken, den Gewinn Konstantinopels mit dem mittelasiatischen Hebel herbeizuführen.“

Die Briten hatten sich zwischen 1835 und 1842, bei ihrem ersten Afghanistan-Abenteuer, jedenfalls auch ohne russische Machinationen tief in die von Stammesrivalitäten geprägten afghanischen Verhältnisse verstricken lassen. Am Khyber-Paß erlag das indisch-britische Heer 1842 erstmals der unwirtlichen Natur und den Waffen der kriegsgewohnten Afghanen. 1855 schloß die britisch-indische Regierung mit dem Emir Dost Muhammed, der seine Macht in Kabul nach zehnjährigen Stammesfehden gefestigt hatte, ein Schutz- und Trutzbündnis. 1862 unterstützten ihn die Briten gegen eine Invasion der Perser, hinter der man in London wieder russische Anstifter vermutete. Ab Mitte der sechziger Jahre mischten sich die Briten wieder stärker in die heillos verworrenen, von Nachfolgestreitigkeiten um die Emirwürde geprägten afghanischen Wirren ein, weil von Rußlands Stellung in Mittelasien inzwischen neue Gefahren ausgingen. 1869 kamen London und St. Petersburg überein, Afghanistan als außerhalb der russischen Einflußsphäre liegend zu behandeln. Da man sich über den Verlauf der Nordgrenze des Landes aber nicht einigte, waren neue Konflikte vorprogrammiert. Die wurden denn auch durch den russisch-türkische Krieg 1877/78 ausgelöst. Wieder einmal um der Sicherheit Indiens willen, machte England Anstalten, zugunsten des Osmanischen Reiches einzugreifen und verlegte bereits Truppen aus Indien ans Mittelmeer. Der Zar schickte daraufhin Diplomaten zum Emir nach Kabul, der sich gleichzeitig weigerte, eine englische Abordnung zu empfangen. Daraufhin fielen die Briten, wieder einmal über den Khyber-Paß kommend, nach Afghanistan ein. Der zunächst äußerst erfolgreiche und mit geringen Verlusten verbundene Feldzug, der 1879 mit der Etablierung der englischen „Schutzmacht“ zu enden schien, schlug im Herbst 1879 in eine neuerliche Erhebung der Afghanen um, die erst nach blutigsten Gemetzeln mit einem Kompromiß endete: Die Briten zogen sich gegen die Versicherung aus dem Land zurück, daß die Herrscher in Kabul mit keiner fremden Regierung in Verbindung treten sollten. Doch kurz darauf drängte die russisch-englische Rivalität in Mittelasien zum Ausbruch. Die Russen hatten 1884 die 1869 nur unscharf fixierte „Einflußsphäre“ verlassen. Von Nordwesten her klopften sie an Afghanistans Tore. 1885 wurde eine Streitmacht Kabuls nördlich von Herat von russischen Truppen geschlagen, die sich anschickten, das Land in jenem günstigen Augenblick zu erobern, als England durch Kolonialkonflikte mit Deutschland und Frankreich gebunden war: „An einem Streit um die Weideplätze halbwilder Stämme schien der lange befürchtete Kriegsbrand zwischen Großmächten der Erde sich zu entzünden“ (Oncken). Doch der drohende Weltkrieg wurde um drei Jahrzehnte vertagt.

Zehn Jahre später, die Russen hatten sich mittlerweile auf den Fernen Osten konzentriert, kamen die Konfliktparteien sogar zu einer dauerhaften Einigung über die afghanische Grenze. Damit wurde zaghaft die englisch-russische Annäherung eingeleitet, die schließlich in die „Einkreisung“ des Deutschen Reiches und damit letztlich, in anderer Konstellation als 1884, doch in einen Weltkrieg mündete.

Ein deutscher Vorstoß, die diplomatische Mission Werner Otto von Hentigs, die 1915 nach Kabul führte, um den Emir zum Krieg gegen Britisch-Indien zu bewegen, war zwar richtig an der neuralgischen Stelle des Empire angesetzt, doch mit völlig unzureichenden Kräften ausgeführt. Kaum mehr Erfolg war den Interventionen beschert, die das deutschfreundliche Land während des Zweiten Weltkriegs gegen England in Stellung bringen sollten.

Für die deutsche Geschichte war das „Anklopfen der Weltereignisse“ in Afghanistan erst wieder 1979, mit dem sowjetrussischen Einmarsch, zu vernehmen. Hier, wo inzwischen die US-Amerikaner mit ihren afghanischen Stellvertretern die Briten abgelöst hatten, trat der Kalte Krieg in seine letzte Phase. Als die Sowjetarmee im Februar 1989 geschlagen das Land verließ, dauerte es nur noch wenige Monate, bis dieses politische Beben am 9. November schließlich auch die märkische Provinz erreichte.


 
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