© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
„Wir wollen im Westen leben“
Der Vorsitzende des Islamrates, Hasan Özdogan, über den Krieg gegen die Taliban und das neue Zuwanderungsgesetz
Moritz Schwarz

Herr Özdogan, die Bundesrepublik Deutschland hat beschlossen, 3.900 Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, um am Krieg gegen die Taliban teilzunehmen. Wie reagieren die Muslime in Deutschland auf diese Entscheidung?

Özdogan: Für uns ist es sehr wichtig, daß es sich nicht um einen Krieg gegen Afghanistan, sondern gegen den Terrorismus handelt. Wir hoffen, daß der Kampf nicht so lange dauert und nicht der Eindruck entsteht, es handle sich um einen Krieg zwischen dem Islam und dem Westen.

Das heißt, Sie stimmen dem Bombardement Afghanistans zu?

Özdogan: Wenn al-Qaida für die Anschläge vom 11. September verantwortlich ist und die Taliban Osama bin Laden decken, dann ist es in der Tat das Recht der USA und ihrer Verbündeten, militärisch vorzugehen.

Viele Muslime verurteilen den anglo-amerikanischen Luftkrieg gegen Afghanistan. Wie sehen das die Mitglieder Ihrer Verbände?

Özdogan: Die Mitglieder unserer Verbände sind natürlich mißtrauisch geworden, denn es wird nun seit über vier Wochen bombardiert, ohne daß die Angriffe bislang ein Ergebnis gebracht hätten. Die Terroristen bleiben unbehelligt, zahlreiche unschuldige Menschen aber müssen sterben, werden verstümmelt oder verlieren ihre Existenzgrundlage. Die Bilder von diesen Menschen gehen uns natürlich sehr nahe.

Also doch ein Ende der Bombenangriffe?

Özdogan: Wenn sich weiterhin erweisen sollte, daß mit der bisherigen Strategie die Schuldigen nicht getroffen werden, sondern nur die Unschuldigen, dann muß der Westen sich in der Tat einen anderen Weg überlegen.

Die Entscheidung der Bundesregierung, die Bundeswehr an der Seite der Amerikaner gegen die Taliban in den Krieg zu schicken, wird das Leid aber wohl weiter mehren.

Özdogan: Entscheidend ist das Leiden der Unschuldigen - dauert es an, wird es die ganze muslimische Welt gegen den Westen aufbringen. Das ist es, was wir fürchten.

Mit wem indentifizieren sich denn die Muslime in Deutschland wirklich? Mit den Moslems, die von den USA angegriffen werden, oder mit denen, die die „Allianz gegen den Terror“ unterstützen?

Özdogan: Wir Moslems unterstützen keine Partei, sondern Recht und Gerechtigkeit. Deshalb sind wir gegen den Terror, aber wir erinnern auch daran, daß die USA zum Beispiel ohne Mandat der Uno handeln. Genaugenommen handelt es sich um einen Alleingang einer Großmacht, was an internationalem Recht gemessen natürlich nicht ganz in Ordnung ist. Allerdings, wie gesagt, mit den Taliban andererseits kann sich ein anständiger Moslem nicht identifizieren. Terrorismus ist die Erniedrigung der menschlichen Zivilisation auf die schlimmste Art und Weise, mit der wir nie und nimmer einverstanden sein können.

Kritiker werfen Ihnen vor, daß der Islamrat weniger das Denken und Fühlen des normalen Moslems repräsentiere als vielmehr das einer assimilierten Minderheit, die auf diese Weise nur westliches Denken in die Reihen der Muslime schmuggele.

Özdogan: Solcher Kritik begegnen wir mit einer gewissen Genugtuung, denn in der Tat wollen wir als Muslime im Westen leben, das heißt den Westen annehmen und zu einem europäischen Islam verschmelzen. Und die Muslime an unserer Basis, die das bis jetzt noch nicht begriffen haben, werden es noch begreifen oder schlicht begreifen müssen. Natürlich wird sich der europäische Islam schließlich vom Islam in den islamischen Mutterländern unterscheiden.

Welche Haltung nehmen Sie grundsätzlich gegenüber den USA ein?

Özdogan: Wir sprechen uns natürlich gegebenenfalls auch gegen die USA aus, aber solange in Bosnien, Mazedonien und dem Kosovo die Rettung der Muslime alleine US-Truppen zu verdanken ist, dürfen wir Amerika nicht pauschal verurteilen. Zudem ist es nur die differenzierte Kritik, die beim Adressaten auch wirklich ankommt. Wir europäischen Muslime müssen Glaubwürdigkeit erreichen, deshalb ist ein hohes Maß an Objektivität und Verständnis für europäische Interessen notwendig.

Vernachlässigen Sie aber nicht Leid und Demütigung Ihrer Glaubensbrüder in der islamischen Welt durch den Westen zugunsten der unbestrittenen Wohltat, die die USA den Moslems in Europa durch ihre Interventionen gebracht haben?

Özdogan: Natürlich kritisieren wir zum Beispiel die bedingungslos pro-israelische amerikanische Palästina-Politik. Der israelischen Agression wurde von seiten der Amerikaner kaum etwas entgegengesetzt. Wir hoffen, daß es in Zukunft gelingt, beide Seiten an einen Tisch zu bringen und das Töten in Palästina, bei dem ja stets ungleich mehr Palästinenser als Israelis sterben, zu Ende geht.

Europa und insbesondere Deutschland sind heute in der Substanz weitgehend entchristianisiert. Läuft der Glaube der Moslems bei dem Versuch eines „europäischen Islams“ nicht Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden wie das Christentum und perspektivisch einem materiellen Atheismus zu weichen?

Özdogan: Ich bin nicht der Auffassung, daß Deutschland und Europa dem Atheismus anheim gefallen sind. Sicherlich gibt es viele Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, aber mein Eindruck ist, daß viele von ihnen Agnostiker sind, das heißt, sie glauben an Gott, fühlen sich aber keiner kirchlichen Gemeinschaft verbunden. Es gibt in Europa einfach viele Menschen, die auf der Suche nach einer bessseren Weltanschauung sind.

Was ist der Islam für Sie genau, eine Religion oder schlicht eine Kultur?

Özdogan: Der Islam ist in erster Linie eine Religion. Eine Kultur ist dagegen für eine Religion nicht typisch. Denn eine Religion hat ganz bestimmte philosophische Grundsätze, das hat nichts mit der Kultur zu tun. Wenn Sie sich die unterschiedlichen islamischen Länder anschauen, stellen Sie fest: eine Religion, aber viele verschiede Kulturen.

Welches Verhältnis haben die Mitglieder Ihrer Verbände zu Deutschland - ist es ihr Vaterland?

Özdogan: Deutschland ist für die Einwanderer aus der ersten und vielleicht zweiten Generation sicherlich eine Heimat, aber wenn man erst mit etwa sechzehn Jahren nach Deutschland gekommen ist und sich demzufolge zuvor eine andere Heimat gefühlsmäßig angeeignet hat, ist es schwer, diese „auszuwechseln“. Was wir aber bekennen können, ist, deutsche Staatsbürger moslemischer Herkunft zu sein, uns also vielmehr auf der Ebene der verfassungsmäßigen Ordnung zu definieren, als der der völkischen Herkunft. Gleichwohl fühlen wir uns emotional sehr an Deutschland gebunden. Die dritte und nachfolgende Generation wird sich aber wohl klar und uneingeschränkt zu ihrer deutschen Heimat bekennen.

Zweck der Dachorganisation des Islamrates ist es natürlich, die Interessen seiner Mitglieder zu vertreten. Welche sind das?

Özdogan: Wir wollen die Gleichberechtigung der Muslime in Deutschland mit den anderen Glaubensgemeinschaften erreichen.

Das heißt, mit dem Christentum?

Özdogan: Das, was den Christen auf Grundlage der Verfassung zusteht, wollen wir Moslems im Laufe unseres Integrationsprozesses auch erreichen.

Sie akzeptieren also nicht, daß Deutschland trotz allem ein Land christlicher Kultur ist?

Özdogan: Man muß jedes Land in seiner gegebenen Struktur anerkennen. Man muß respektieren, daß in Deutschland 28,5 Millionenen Katholiken, über 27 Millionen Protestanten leben und Deutschland eine weit über tausendjährige christliche Tradition hat. Aber inzwischen gibt es eben auch 3,5 Millionen Muslime hier, immerhin fünf Prozent der Bevölkerung. Die ersten Moslems kamen bereits 1731 hierher, nämlich ins Königreich Preußen, und Teile dieses Landes werden in Zukunft entsprechend des muslimischen Bevölkerungsanteils islamisch geprägt sein. Auch das muß man eben anerkennen.

Europa ist fast 2000 Jahre lang christlich gewesen. Das christliche Erbe ist Teil der europäischen Identität. Haben Sie Verständnis dafür, daß sich die Europäer aufgrund der Vielzahl muslimischer Einwanderer bedroht fühlen?

Özdogan: Diese Sorge höre ich immer wieder, habe aber nur wenig Verständnis dafür, da wir Muslime doch keine Gefahr darstellen. Die erste Generation ist nach Deutschland gekommen, weil sie hier als Arbeitskräfte gebraucht wurde. Man hat erwogen, sie wieder zurückzuschicken, aber weil man sah, daß sie gute Arbeit geleistet hat, kam man zu dem Schluß, diese ehrlichen Menschen sollen mit ihren Frauen und Kindern hierbleiben dürfen und Teil dieser Gesellschaft werden. Wir sind also keine Eindringlinge, sondern unsere Existenz hier ist eine gewollte.

Liegt das Problem vielleicht nicht bei den bereits integrierten Ausländern, sondern darin, daß die Einwanderung immer weiter fortgeht? Die Bundesregierung hat gerade einen Zuwanderungsgesetzentwurf vorgelegt, in der Hoffnung, die Frage so aus dem Wahlkampf 2002 heraushalten zu können.

Ozdogan: Wir freuen uns sehr über das neue Zuwanderungskonzept der Bundesregierung, denn es sieht auch jährlich 300 Stunden Integrationskurse vor. Nun hoffen wir nur, daß es alle Hürden nimmt und in der gleichen Form auch als Gesetz verabschiedet wird. Die Zuwanderung muß eben so stattfinden, daß beide Seiten sich um Integration bemühen.

Weitere Zuwanderung wird aber von den Deutschen gar nicht gewollt, deshalb versuchen die Parteien ja auch, das Thema aus dem kommenden Bundestagswahlkampf herauszuhalten. Gefährden Sie mit der Unterstützung dieser Forderung nicht das gedeihliche Zusammenleben Deutscher und Ausländer, da die in Zukunft nicht endende Zahl von Einwanderern Mißtrauen sät?

Özdogan: Ein Einwanderungsstopp ist nicht im Sinne unserer Demographie. Wir brauchen die Einwanderer zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland genauso wie zur Sicherung der Renten.

Unbekannt ist, daß unter 3,5 Millionen Muslime in Deutschland einhunderttausend zum Islam konvertierte Deutsche sind. Missionieren Sie?

Özdogan: In der Tat sind unter den dreieinhalb Millionen Muslime hier auch hunderttausend deutschstämmige sowie etwa eine halbe Million eingebürgerte Muslime. Wir profitieren sehr von unseren deutschen Glaubensbrüdern. Allerdings missionieren wir nicht, denn der Islam kennt Verkündigung statt Missionierung, das heißt, das Vorleben des Islam ist bereits die religöse Verkündigungsarbeit.

 

Hasan Ozdogan geboren 1955 in Bursa/Türkei. 1971 kommt Özdogan im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland. Der Diplom-Chemiker leistet 1988 seinen Wehrdienst in der Türkei und wechselt danach von der wissenschaft-lichen Laufbahn ins Verbandswesen diverser islamischer Vereine. Seit 1996 ist er Vorsitzender des „Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland“, einem Dachverband von 32 verschiedenen islamischen Vereinen. Der Islamrat ist die größte islamische Organisation in der Bundesrepublik Deutschland.

 

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