© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
Mit importierten Lohndrückern aus der Krise
Green Card: Neue Offensive für „Computerinder“ / Massenentlassungen in der New Economy / „Entideologisierung der Zuwanderungsdebatte“ / Falsches Vorbild USA
Ronlad Gläser

Ende Oktober, Bangalore: Gerhard Schröder macht während seiner Asienreise einen Zwischenstop im „indischen Silicon Valley“. In der Heimat reanimiert der Kanzler sein Rezept für die deutsche Wirtschaft. Mit der „Green Card“ trete man „in den Wettbewerb um die besten Leute weltweit“, so Schröder. Sekundiert wird er von seinen daheim gebliebenen Kabinettskollegen. Arbeitsminister Riester legt neue Statistiken vor und öffnet 10.000 weiteren ausländischen IT-Experten Tür und Tor. Selbst die CSU macht mit.

Zwei Wochen zuvor, München: Menschenleere Hallen und vereinsamte Messestände auf der High-Tech-Messe „Systems 2001“ zeugen von der Depression eines ganzen Wirtschaftszweiges. Die Zahl der Aussteller und Besucher ist um etwa ein Siebtel gesunken. Entlassungen sind in der IT-Branche an der Tagesordnung. Trotzdem sollen Computerexperten aus Indien „künftig besser in bayerische Unternehmen integriert werden“, so Bayerns Staatskanzleichef Erwin Huber auf der Systems. Dazu soll der neu gegründete deutsch-indische Verein „InfinIT“ beitragen, so der CSU-Politiker. Die bayerische Standortmarketing-Agentur „gotoBavaria“ ( www.gotobavaria.org ) will sogar ein Büro in Bangalore in Südindien eröffnen und dadurch noch mehr IT-Experten und andere Unternehmen aus Indien nach Bayern holen.

Selten klafften wirtschaftspolitisches Wunschdenken und Wirklichkeit so auseinander wie hinsichtlich der angeblich so dringend erforderlichen „Computerinder“. Daß die gesamte Informations- und Telekommunikationsbranche (IT) stürmische Zeiten durchmacht, ist bekannt. Viele startups sind so schnell verschwunden, wie sie aufgestiegen sind. Milliarden wurden am Kapitalmarkt vernichtet. Täglich gehen weitere Arbeitsplätze verloren. Die Bundesregierung aber hält unbeirrt an ihrem Plan fest, den „Expertenmangel“ durch weitere Ausnahmeregelungen zu bekämpfen.

Die Nachfrage nach Hard- und Softwareprodukten sowie IT-Dienstleistungen hat sich drastisch verlangsamt. Das Münchner Ifo-Institut prognostiziert für 2001 ein Wachstum dieser Archetypen der New Economy von nur noch acht Prozent. Die Gewinne wachsen noch langsamer als die Umsätze, ein weiteres Minuszeichen. Kaum noch vierzig Prozent der Firmen bezeichneten ihre Lage in einer Umfrage als gut. Vor zwei Jahren galten Zuwächse im einstelligen Bereich als Beweis dafür, daß solche Unternehmen falsch geführt würden.

Zehntausende Entlassungen in der IT-Industrie

Die Liste der Opfer ist lang: Der Telefonhersteller Alcatel rechnet in diesem Jahr mit einem 10-Milliarden-Verlust. Nach 23.000 Entlassungen im Vorjahr wird nun weiteren 10.000 Mitarbeitern des französischen Konzerns gekündigt. Die Siemens-Tocher ICN entläßt 5.000 ihrer Mitarbeiter. Im Frühjahr hatte der Netzwerkproduzent schon einmal 5.000 Arbeitsplätze gestrichen. Im dritten Quartal erlitt diese Siemens-Sparte einen Verlust von einer Milliarde Mark. Glänzte die IT-Branche seit 1999 mit den höchsten Zuwächsen an Stellenangeboten, verbucht sie in diesem Jahr mit 30 Prozent den größten Rückgang der Offerten. Nach Auswertung des Marktforschungsunternehmens EMC/Adecco ging die Zahl der IT-Jobofferten im ersten Quartal dieses Jahres um 17 Prozent, im zweiten Quartal um 30 Prozent und in den vergangenen drei Monaten sogar um 58 Prozent zurück. Von Januar bis September gab es 58.582 Angebote, was einem Minus von über 25.000 Stellen oder 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Zum Vergleich: Die freien Plätze für Fach- und Führungskräfte insgesamt verminderten sich um etwa 22 Prozent.

In den USA hat die Dotcom-Krise die Rezession bereits eingeleitet. Der ICN-Konkurrent Nortel Networks hat im dritten Quartal sieben Milliarden Mark verloren. Es drohen Massenentlassungen wie bei den ehemaligen Branchen-Überfliegern Lucent und Cisco. Der Umsatz des Produzenten von Großrechnern Sun Microsystems fiel von Juli bis Oktober um die Hälfte. Auch der Technologiekonzern EMC machte erstmals seit den 80er Jahren Verlust und wirft nun mit 4.000 Angestellten rund zwanzig Prozent seiner Belegschaft raus. Fünf Prozent der Beschäftigten, also 150 IT-Experten, setzt der Softwarehersteller Adobe vor die Tür.

Die Euphorie angesichts des High-Tech-Booms der neunziger Jahre hat den Blick für die Ursachen des Niedergangs der Branche getrübt. Die Schwächephase ist nicht nur der Spekulationsblase geschuldet. Der Fehler liegt regelrecht im System. Je mehr Computer und das Internet unser Leben durchdringen, um so unerläßlicher ist die Standardisierung. Plug and Play lautet das Stichwort, das Hard- und Software immer günstiger werden läßt.

Dank der Kompatibilität der Produkte fällt die Kaufentscheidung immer mehr aufgrund des Preises. Die Anbieter werden gezwungen, eine economy of sale zu praktizieren. Sie nutzen Größeneffekte und senken ihre Kosten, um im Preiskrieg bestehen zu können. Kleinere Anbieter werden durch den Preiskrieg ins Abseits gedrängt. Die jüngste Entwicklung der gesamten IT-Branche bestätigt mustergültig die ökonomische Theorie.

Um den Markt für Computerchips kämpfen die US-Firmen Intel und Advanced Micro Devices. Trotz eines drastischen Rückgangs erwirtschaftet der Marktführer Intel noch 200 Millionen Mark Gewinn. AMD, der Zweitplazierte, aber hat allein im dritten Quartal 400 Millionen Mark Verlust gemacht. Im letzten Jahr wies die US-Firma einen doppelt so hohen Gewinn aus. Als Druckerhersteller dominiert Hewlett Packard vor der ebenfalls amerikanischen Lexmark den Weltmarkt. Lexmark leidet - wie AMD - unter Gewinn- und Umsatzrückgang. Zwölf Prozent der Belegschaft, 1.600 Mitarbeiter, sehen ihrer Entlassung entgegen. Unter den Computerherstellern kann Gateway mit seinen stärkeren Brüdern, Compaq und Dell, nicht mithalten. Bei einer gleichbleibenden Anzahl von verkauften Rechnern sank das Geschäftsergebnis im laufenden Jahr um umgerechnet 2,7 Milliarden Mark und damit in die roten Zahlen. Massenentlassungen und Werksschließungen stehen bevor.

Nur auf den ersten Blick wirkt es deshalb überraschend, daß die Firmen weiterhin auf der Suche nach Mitarbeitern sind: Die betroffenen Unternehmen nutzen die Gunst der Stunde, um sich von den - aus ihrer Sicht - weniger Qualifizierten zu trennen und hoffen, sie durch bessere und billigere „Computerinder“ ersetzen zu können.

Zehntausend neue Green Cards à la Schröder

Auch der Serviceindustrie präsentiert sich die Lage so, wie sie vom AMD-Chef Jerry Sanders beschrieben wurde, als ein „instabiles Molekül“. Die Deregulierung des Telefonmarktes hat nicht unbedingt zu einer Zunahme des Wettbewerbs geführt. Viele kleine Unternehmen wie beispielsweise die deutsche Teldafax mußten der Marktkonsolidierung weichen. Aus dem Konzentrationsprozeß gehen nicht nationale sondern internationale Quasi-Monopolisten hervor.

Zur systemimmanenten Krise kommen politische Grundsatzentscheidungen mit schwerwiegenden Folgen. Die deutsche Green-Card-Initiative war schon falsch, als Bundeskanzler Schröder sie am 23. Februar 2000 auf der Computer-Messe CeBIT ins Leben rief. Der angebliche Mangel an wenigstens 150.000 EDV-versierten Profis müsse schnellstens gelindert werden, hieß es damals. Gleichzeitig sollten heimische Arbeitsnehmer für die neuen Jobs qualifiziert werden - als „Trostpflaster“ für die Gewerkschaften. Deren Basis war schon damals skeptisch.

Der Ansturm der „Computerinder“ blieb aber aus. Die letzte der 10.000 zugesagten Ausnahmegenehmigungen wurde erst jetzt erteilt. Es hat ein Jahr gedauert, bis das Kontingent der befristeten Green Cards ausgeschöpft war. Die Bewerber stammen neben Indien vor allem aus Osteuropa. Sie arbeiten vorwiegend in Süddeutschland. Nach Mecklenburg-Vorpommern haben sich nur sechs von ihnen verirrt.

Die meisten der potentiellen Programmierer aus Indien gingen vor Ablauf der Jahresfrist in die USA. 50.000 der einstmals heißbegehrten „Computerinder“, so schätzt man in Indien, werden wegen der desolaten Lage bis Jahresende in ihre Heimat zurückgekehrt sein. Als Erfolg bewertet die Bundesregierung auch die Weiterbildung von 46.000 heimischen Arbeitnehmern. Weil die Wirtschaft ihrer Aufgabe, junge Menschen auszubilden, nicht nachkommt, trägt der Steuerzahler die Kosten: Jeder Teilnehmer an einem Weiterbildungslehrgang mußte mit ansehnlichen 40.000 Mark alimentiert werden. Für Norman S. Matloff ist der Arbeitskräftemangel in der IT-Branche ein Mythos. Der Informatik-Professor an der Universität von Kalifornien wird wegen seiner Kritik an der Personalpolitik in der IT-Branche als „Geißel von Silicon Valley“ bezeichnet. Matloff hat nach den Gründen für die geringen Karrierechancen seiner Absolventen gesucht.

Für Matloff steht fest, daß es den Arbeitgebern lediglich um billige Arbeitskräfte geht, die 25 bis 30 Prozent weniger verdienen als ihre US-Kollegen. Die Unternehmen entließen gerade Tausende von Angestellten, nachdem sie zuvor von Arbeitskräftemangel geredet hätten. Zudem könnten sie es sich erlauben 95 bis 98 Prozent ihrer einheimischen Bewerber abzulehnen. Nur die wenigsten US-Informatiker hätten die Chance, bei ihrem Wunscharbeitgeber auch nur einen Termin zum Vorstellungsgespräch zu erhalten. Ältere Computerspezialisten seien erst recht chancenlos. Ab 35, so Matloff müßten Angestellte in IT-Firmen mit Mobbing rechnen. Eiskalte Diskriminierung älterer Menschen lassen sich statistisch belegen. Nur zwei Prozent von befragten Firmen erklärten in einer Umfrage, Mitarbeiter mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung einstellen zu wollen.

Ganz anders sind da die jungen, ungebundenen „Computerinder“. Ausländische Arbeitnehmer seien ihren neuen Chefs geradezu hörig, so Matloff. Das H1B-Programm schränkt die Rechte ausländischer Arbeitnehmer in den USA stark ein. Wird ein „Computerinder“ zum Inhaber einer mit weitergehenden Rechten verbundenen Greencard, so wechselt er meistens schleunigst den Arbeitsplatz. Auch das Argument, ausländische IT-Experten schafften Arbeitsplätze für Inländer, läßt Matloff nicht gelten. Für Inländische IT-Experten würde schließlich dasselbe gelten. Trotz seiner fundierten Argumente verhallt Matloffs Kritik wirkungslos. Selbst seine Anhörungen vor dem US-Senat und seine Kommentare in der New York Times oder Forbes haben kein Einlenken Washingtons herbeiführen können. Laut Matloff wird auch die deutsche Diskussion um importierte EDV-Spezialisten mit derselben Motivation und denselben vorgeschobenen Argumenten geführt. Dies bestätigen Angaben des DGB, der vergangene Woche mehrere Arbeitgeber identifiziert hat, die die Regelung mißbrauchen. Sie verhelfen Ausländern zu einem der mit wenigstens 100.000 Mark dotierten Jobs. Sobald die Genehmigung erteilt ist, wird eine Gehaltssenkung „im beiderseitigen Einvernehmen“ vereinbart.

Die neue Green-Card-Offensive in Deutschland erntet nicht nur Beifall. Vereinzelt kritisieren Gewerkschafter den Import fremder Arbeitnehmer angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage. Personalberater bemängeln den „politischen Aktionismus“ und die Ignoranz gegenüber Sprachproblemen. Außerdem seien reihenweise ausländische IT-Experten während der jüngsten Entlassungswelle gefeuert worden. Für die Berliner Computerfirma PSI ist das ganze ein „politischer Gag“.

Billigere Arbeitskräfte und „Mobbing“ ab 35

Die Arbeitgeber erheben aber immer neue Forderungen. Der Verband Bitkom, der lediglich eine Handvoll von IT-Unternehmen vertritt, wird aber zum Thema Greencard gerne zu Rate gezogen. Mit allerlei Derivaten begründet der Sprecher des Branchenverbandes, Stephan Pfisterer, den Bedarf an ausländischen (sprich: billigen und willigen) Arbeitnehmern. Die Forderung nach einer regelrechten Völkerwanderung ist dagegen eindeutig: In Europa fehlten 1,9 Millionen Experten, in zwei Jahren seien es 3,8 Millionen, verlautbarte Bitkom im vergangenen Frühjahr. Zudem müsse die zeitliche Befristung und das Mindestgehalt von 100.000 Mark abgeschafft werden. Das selbst 40jährige heute kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, wird hingegen verschwiegen.

Über den vermeintlichen Expertenmangel zu philosophieren ist heutzutage schick. Bei der Bundesregierung laufen die um ihre Personalkosten besorgten Unternehmer offene Türen ein. Sein Image als „Genosse der Bosse“ ist aber nur eine der Triebfedern für Gerhard Schröder. In Indien sprach der Kanzler offen aus, daß es ihm gar nicht in erster Linie um eine Zahl ginge. Sein Ziel sei eine „Entideologisierung der Diskussion um die Zuwanderung“. BDI-Chef Michael Rogowski, der den Kanzler nach Asien begleitete, bezeichnete die Zuwanderung fremder Arbeitskräfte sogar als Voraussetzung für eine „humane Globalisierung“.

Schröder war 1998 angetreten, um die Arbeitslosenzahl zu halbieren. Die schwache Konjunktur bläst der Bundsregierung erst seit kurzem ins Gesicht. Die niedrige Inflation und die gute Exportlage boten gute Vorraussetzungen. Aber die Steuerpolitik war halbherzig. Der Wirtschaftspolitik fehlten neue Impulse. Deswegen stagniert jetzt die Wirtschaft, und auch auf dem Arbeitsmarkt hat sich nichts getan. Tatsachen werden aus ideologischen Gründen mißachtet - so zum Beispiel die Situation im indischen Bangalore. Hier sind gerade weitere siebzig Firmen pleite gegangen.

Computermesse Systems 2001 in München: Etwa 16 Prozent der Aussteller hatten ihre geplante Teilnahme abgesagt. Die Zahl der IT-Stellenangebote ging in den letzten drei Monaten um 58 Prozent zurück


 
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