© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
Rückzug in rauchende Ruinen
Falsche Lustigkeit: Die Spaßgesellschaft befindet sich in einer fundamentalen Krise
Werner Olles

Im Zeitalter des Neokulturalismus, der Kultur und Zivilisation mehr oder weniger als identisch ansieht und erstere nur noch machtbegrifflich definiert, wird zunehmend eine Archaisierung der Begriffsbildung erkennbar, die sämtliche nichtwestlichen Kulturen dämonisiert. Ein Zivilisationsparadigma, welches allein auf gesellschaftlichen Prämissen wie Demokratie, Menschenrechte, Konstitutionalismus, Individualismus, Liberalismus, Säkularismus oder Gleichheit und Gleichberechtigung der Geschlechter beruht, wird jedoch in nichtwestlichen Kulturen nur bedingt Verständnis finden.

Tatsächlich ist aber die Einheit der westeuropäischen und auch der US-amerikanischen Kultur weitgehend eine imaginierte Idee. Das erweist sich vor allem beim großen Doppelthema Macht und Dekadenz, das seit Spengler wohl das folgenreichste Forschungsfeld okzidentalen Geschichtsdenkens darstellt.

Als Leitmotiv dieses historischen Kulturpessimismus im abendländisch-westlichen Denken fungiert die Dekadenzthese in ihrer Verschmelzung von kulturbiologischen und ethnonationalen Determinanten. Spengler definierte diesen Kulturbegriff mit den Sätzen: „Das Wesen aller Kultur ist Religion“ und „Kultur ist das Dasein von Nationen in staatlicher Form“.

In der Zerrissenheit zwischen Fortschrittsglauben und Dekadenzbewußtsein offenbart sich jedoch nicht nur das große Paradoxon der Moderne, sondern auch die evidente Krise des westlichen Menschen überhaupt. Alles Endzeitgerede und sämtliche neomodernen Apokalypsendiskurse, so lächerlich sie vordergründig auch erscheinen mögen, müssen also zunächst vor diesem theoretischen, politisch-kulturellen und zeitgeschichtlichen Hintergrund gesehen werden.

Es sind alte Instinkte und mythische Bestimmungsmomente, die hier in das Zentrum unseres kulturgeographischen Organismus zurückkehren. Und aus ihrer Sichtweise überwiegen angesichts des bedrohlichen Charakters globaler Vergesellschaftungsprozesse eindeutig die negativen Konnotationen planetarischer Politik und universaler Kulturkämpfe.

Ausgehend von den barbarischen Terrorakten in den USA ist in der krisentheoretischen Diskussion über die Ursachen, Auswirkungen und Folgen dieser Ereignisse inzwischen ein kleiner und von eklatanten Widersprüchen geprägter Schaukampf entbrannt. Als Peter Scholl-Latour in dem Fernsehgespräch mit Michel Friedman der Satz vom „Ende der verdammten Spaßgesellschaft“ herausrutschte, war für die militante Fraktion des smartie-bunten Postmodernismus jeglicher Couleur in der Tat Schluß mit lustig. Als ob allerorten martialische Überlebensgemeinschaften und Kampfverbände zum Vernichtungsritual gegen den radikalen Flügel des Islam und in einem Aufwasch gegen die Champagnerfröhlichkeit und Verschwendungssucht der postmodernen Risikogesellschaft aufmarschierten, schlug die Stunde der johannisgetriebenen Philosophen der kapitalistischen Zivilisation, deren zukunftsorientierten, modesoziologischen Identitätsbildungen in Zeiten der Angst und der Unsicherheit politische Hochkunjunktur haben und sich wuchernd ausbreiten.

Mit geradezu tierischem Ernst wird dabei ein theoretisierender Snobismus gebetsmühlenhaft zur Maxime des richtigen Lebens erhoben. Seine Warnung vor einer Reideoligisierung, welche die Gestalt einer Bunkergesellschaft annehmen könnte, geht dabei einher mit der gefährlichen - und bisher allein auf den Westen beschränkten - Illusion, Kulturen seien nichts weiter als putzig-kurzweilige Freizeitparks des jeweiligen Zivilisationsbewußtseins. Bis weit hinein in rechtskonservative Bestände hält die Orwellsche Sprache des Liberalismus Einzug und verkündet als Evangelium der 89er Love-Parade-Generation jene kritische Nichtkritik, die noch niemals einer Krise standgehalten hat. Weil sie immer Bestandteil der Geschichte war, die gerade zu Ende ging, hat diese Art Positivismus der Entwirklichung der Wirklichkeit weidlich vorgearbeitet. Dabei mögen die popkulturalistischen Illusionen jenes Polit- und Lebensästhetizismus Nachhutgefechte sein, weil es inzwischen bereits Generationen gibt, die zwar noch in den Kategorien des Postmodernismus intellektuell sozialisiert worden sind, die aber ihr krisentheoretisches Bewußtsein unbefangen wiederentdecken und das Problem der Krise zumindest als Lebensabenteuer interpretieren. Hier verschließt man nicht mehr die Augen vor der postmodernistischen Auslöschung der Wirklichkeit in der Simulation und im Diskurs, weil man gut verstanden hat, daß eine prinzipielle Gesellschaftskritik nie „positiv“ werden darf, da sie sich sonst selbst aufgibt.

Dennoch ist es keineswegs erforderlich, jetzt aktuell militärische oder bellizistische Tugenden, orakelhafte Endzeitideologien und apokalyptische Prophezeiungen zu beschwören. Es gibt allerdings auch keinerlei Grund zur Entwarnung oder Entdramatisierung nach dem Motto „Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff“. Wenn auch der islamistische Terrorismus dem antikrisentheoretischen Postmodernismus offenbar endlich seine lang entbehrte und heiß ersehnte „Wagniskultur“ beschert hat, läßt es sich nun einmal nicht leugnen, daß es bei den kommenden territorial entgrenzten Kämpfen nicht um beziehungstherapeutisch zu regelnde Animositäten narzißtischer Lebensästheten geht, sondern schlicht um Weltanschauungen. Und dabei werden die kulturellen Bruchlinien nicht wie gewohnt auf globalen Atlanten verlaufen, sondern möglicherweise mitten durch eine beliebige Wohngemeinschaft, die gerade mit bestem Gewissen ihre ewige Halbwüchsigkeit konserviert und die Konditionen des politizistischen Klimas von 1968 diskutiert.

War das Friede-Freude-Eierkuchen-Geseiche der vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR finanzierten „Friedensbewegung“ der achtziger Jahre schon unter aller Sau, ist die falsche Unmittelbarkeit und falsche Lustigkeit der antikrisentheoretischen Postmodernisten und Lebensästheten, deren unzurechnungsfähiges Lallen jederzeit umschlagen kann in die beim „Aufstand der Anständigen“ ganz weltoffen und tolerant antrainierte Pogromseligkeit, ein Ausfluß dieser verleugneten Fundamentalkrise. Natürlich kann man sich auch in eine rauchende Ruine noch gemütlich zurückziehen und im Gedenken an Gabriele d’Annunzio oder Richard Wagner ironischerweise das Leben feiern, um das eigene elende, reale Dasein in der Kloake der Spaßgesellschaft entsprechend umzuinterpretieren. Als Mobilmachung gegen die „Endzeit-Propheten“ taugt ein solches Lob der Naivität aber nur wenig.

Die erklärbare Existenz eines rechtskulturalistischen und nationalistischen Antiamerikanismus und eines proamerikanischen Konservativismus baut zusätzliche Fallen auf im politästhetischen Miteinander des aktuellen Krisenspektakels. Auch diese beiden konträren gesellschaftlichen und kulturellen Modelle können in ihrer ganzen Negativität wohl nur im Sinne der französischen Situationisten der sechziger Jahre durchgehalten werden.

Allein in der Bewußtwerdung der Krise, des Leidens und der Schmach kann der politisch-kulturelle Massenopportunismus der postmodernistischen Spaßgesellschaft mit seinem expressiven Individualismus, seinen idiotischen Lockungen und verlogenen Emanzipationspotentialen geschichtsmetaphysisch überwunden, zumindest aber krisentheoretisch genutzt werden.


 
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