© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
Meldungen

Mitte-Links schafft kein soziales Europa

BREMEN. Nach dem bei der Bundestagswahl 1998 von Rot-Grün errungenen Erdrutschsieg war die letzte Bastion konservativer Vorherrschaft in Euro-Land gefallen. In 13 von 15 Mitgliedstaaten war die Regierungsmehrheit in linker Hand. Neue Perspektiven für ein „soziales Europa“, zur Veränderung des „neoliberalen Kurses“ in der EU, hätten sich aufgetan. Doch dann, so analysiert Klaus Dräger aus enttäuschter Sicht des linken Politökonomen (in der Zeitschrift 1999, Heft 2/01), hätten Schröder und Blair sich auf den Boden des - im jüngsten Heft von 1999 auch in seinen ideologiehistorischen Ursprüngen und personellen Vernetzungen (am Beispiel Ludwig Erhards und der von Hayek u. a. gesteuerten Mont Pèlerin Society zeigt dies der einst im RAF-Umfeld operierende Karl-Heinz Roth in gewohnt „antikapitalistischer“, gleichwohl im besten Sinne „aufklärerischer“ Weise) untersuchten - Neoliberalismus gestellt. Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik, ganz zu schweigen von Lafontaines neuer internationaler Finanzarchitektur, gehöre seitdem nicht mehr zu den vorrangigen Zielen der EU-Politik. Diese Entwicklung mache die herrschenden Mitte-links-Bündnisse fragil. Die dem neoliberalen Paradigma folgende europäische Sozialdemokratie habe daher Mühe, ihre verschreckte Stammwählerschaft an die Urnen zu bringen. In Italien habe deswegen der Machtwechsel stattgefunden, in Frankreich stehe er vielleicht für 2002 bevor.

 

Rußlands Geschichte: Basis und Überbau

SEELZE. Unter der modischen Schminke des „Zivilisationsfortschritts“ würden die Verfasser russischer Lehrbücher für den Geschichtsunterricht weiter mit Hilfe alter marxistisch-leninistischer Theorien den historischen Stoff aufbereiten. Ohne Mühe, so resümiert der an der Universität Jaroslav lehrende Andrej Sokolov (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 9/01), ließen sich wohl bekannte Strukturprinzipien wie „Basis und Überbau“, soziale Revolution und „Produktionskräfte“ entdecken. Fast alle Lehrbücher gehorchen methodologisch noch einem lange eingeschliffenen „Objektivismus“, der an „Gesetzmäßigkeiten“ des Geschichtsverlaufs ausgerichtet sei. Zwar sei der „Klassenkampf“ als Motor des „Fortschritts“ verschwunden, doch dessen „Gradlinigkeit“ werde nun auf die „Zivilisation“ projiziert. Regional und ethnisch bedingte Strömungen der russischen Geschichte fänden daher kaum Berücksichtigung. Mit dem „dornigen Problem der nationalen Beziehungen“ ließen Rußlands Historiker Lehrer und Schüler noch immer allein.

 

Begriffsgeschichte des Feindbildes „Korn-Jude“

MÜNCHEN. Seit dem Mittelalter gehöre das Bild vom Juden als Wucherer zum ideologischen und mentalen Grundbestand in deutschen Landen. An diese nicht eben originelle Einsicht knüpft Manfred Gailus seinen an der TU Berlin gehaltenen Habilitationsvortrag an, der sich mit dem antijüdischen Bild des „Korn-Juden“ im 18./19. Jahrhundert beschäftigt (Historische Zeitschrift, Bd. 272/01). Gailus belegt in einer begriffsgeschichtlichen Analyse, wie im preußischen Absolutismus Beamte und Publizisten sich dieser Wortschöpfung bedient hätten, um unter Ausnutzung tiefverwurzelter antijüdischer Einstellungen und Emotionen die Juden als „Trägergruppe eines freieren Marktverkehrs“ zu stigmatisieren. Erst mit der allgemeinen Liberalisierung des Handels zu Beginn der Vormärzepoche habe der „Korn-Jude“ seine obrigkeitliche Kontrollfunktion verloren, doch habe diese „fiktive Figur“ - deren historisch höchst realer Charakter von Gailus freilich, sehr im Gegensatz zu seinen Schlußfolgerungen, erwiesen wird, noch jahrzehntelang in antijüdischen Debatten, kollektiven Emotionen und Polemiken als „Realfigur“ präsent gewesen sei.


 
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