© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001


Die Versetzung scheint gefährdet
EU-Beitritt: Der einstige Musterschüler Polen schwankt zwischen Resignation und Hoffnung
Matthias Bäkermann

Unser östlicher Nachbar ist mit seinen 38,7 Millionen Einwohnern das mit Abstand größte Land unter den EU-Beitrittskandidaten. Polen hat allein so viele Einwohner wie die neun anderen Kandidatenstaaten der „engeren Wahl“ (ohne Rumänien und Bulgarien) zusammen.

Doch die Aussichten auf einen baldigen Beitritt trüben sich. Entgegen allen Beteuerungen der EU-Kommission, die noch am 13. November dem Eindruck entgegentrat, Polen sei in den Verhandlungen zurückgefallen und gehöre zu den „Wackelkandidaten“, sind die Voraussetzungen des Anwärters alles andere als ideal. Mit derzeitig 16 Prozent Arbeitslosigkeit - die laut Prognose vom 15. November des Wiener Institutes für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) im nächsten Jahr auf über 19 Prozent steigen wird - der niedrigsten Pro-Kopf-Kaufkraft in Mitteleuropa von nur 39 Prozent und einer im WIIW erwarteten Stagnation des Wirtschaftswachstums von zur Zeit einem Prozent auf ein Nullwachstum im Jahr 2002, kommt auch bei erweiterungsfreudigen Europäern Skepsis auf. Die Brüsseler Kommission hat in ihrem neuesten Zwischenbericht diese Ergebnisse untersucht und mahnt­ die zu hohe Arbeitslosigkeit und eine defizitäre Haushaltspolitik an. Ferner erregt auch Polens hohe Staatsverschuldung, beziehungsweise der hohe volkswirtschaftliche Einfluß ausländischen Kapitals, Sorge bei den EU-Kommissaren.

Diese vielen Molltöne verstärken den Eindruck, daß sich die Aufnahme neuer Mitglieder, insbesondere Polens, in die Europäische Union weiter verzögern wird. Das würde die Euphorie bei den mittel-osteuropäischen Ländern weiter abkühlen. Der polnische Diplomat Janusz Reiter beschreibt die Stimmung zurückhaltend: „In Polen gibt es zwei widersprüchliche Tendenzen.“ Einerseits mache sich eine Europamüdigkeit bemerkbar, wie die Septemberwahlen auch gezeigt hatten, denn mit der linken Regierung Miller wurden auch skeptische Töne an der Europapolitik formuliert, andererseits werde die Diskussion über die EU „reifer“ geführt. Polen müsse selber „initiativ werden, als auf Initiative zu warten“, forderte der Diplomat. Staatspräsident Aleksander Kwasniewski klingt zuversichtlicher. Gegenüber dem Wiener Standard erkannte er, anläßlich des Staatsbesuches in Österreich am letzten Sonntag, „daß das strategische Ziel, also die Mitgliedschaft Polens in der EU im Jahr 2004 nicht nur möglich, sondern auch sehr real ist.“ Dieser Hoffnung wurde jüngst jedoch indirekt durch EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen widersprochen, der die Beitrittshoffnungen in Ungarn auf das Jahr 2005 richtete. „Ungarn muß auf Polen warten - vorher ist wohl kein Beitritt möglich“. Dabei fördere jede Verzögerung des Beitritts die Resignation, wie der polnischen Botschaftssekretär in Berlin, Konrad Szwedziñski, gegenüber der JF bemerkte. „Die Träume der Polen richten sich auf die Frage ’Wann kommt der Termin?’“.

Viele Dinge in Polen spiegeln die Umwandlung wieder, die der Umbruch von 1989/ 90 forderte. Dabei wurde der radikale Schnitt, der Polen noch bevorsteht, in den neuen Ländern vielfach schon vollzogen. Der Abschied von der hochdefizitären Schwerindustrie ist bislang nur teilweise vollzogen worden, allein für die Umstrukturierung im Kohlesektor konnte die polnische Regierung Lob von der Europäischen Kommission ernten. Schon jetzt zeichnet sich eine Westverlagerung gerade des aufstrebenden Dienstleistungs- und Handelssektors in Polen ab. Die Region Posen läuft hierbei der oberschlesischen Region und Warschau eindeutig den Rang ab.

Das Problemkind Polens ist die Landwirtschaft. Sie erwirtschaftet zwar nur 3,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, beschäftigt aber 18 Prozent der Bevölkerung. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die große Zahl unproduktiver bäuerlicher Kleinstbetriebe volkswirtschaftlich nicht erfaßt wird, da diese hauptsächlich auf Eigenversorgung ausgerichtet sind. Landwirtschaftliche Reformen haben, soweit sie schon auf den Weg gebracht wurden, noch nicht gegriffen. Dieser Zustand wird auch in Brüssel angemahnt, wo eine Gesamtstrategie der rechtlichen und wirtschaftlichen Reformen vermißt wird. Andererseits wird besonders in den landwirtschaftlichen und strukturschwachen Regionen mit Argwohn der Beitritt erwartet. Einhergehend mit dem Strukturwandel wird ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit erwartet, der einigen Woiwodschaften bei der gegenwärtig hohen Arbeitslosigkeit den sozialen Todesstoß versetzen könnte.

Auch das in den Beitrittsverhandlungen im Wege stehende Problem der Freizügigkeit ist vor allem in der Beunruhigung der ländlichen Bevölkerung begründet. Der „Ausverkauf polnischer Agrargebiete“ (gerade durch Deutsche) sollte durch eine langjährige Übergangsfrist von 18 Jahren nach dem Beitritt Polens ausgeschlossen werden. Die Regierung Miller hat nun am 14. November die Forderung auf zwölf Jahre heruntergesetzt. Dabei wird, nachdem Polen bisher nur 19 von 28 nötigen Kapiteln des Beitrittspaketes abschließen konnte, weitere Kompromißbereitschaft seitens der Warschauer Regierung nötig sein.

Die Europäische Union sollte sich dagegen stärker um den Beitritt Polens bemühen. Die Aufgabe Deutschlands, größter Netto-Einzahler in der Gemeinschaft, muß es sein, über seinen zuständigen Kommissar Verheugen mehr Interessenpolitik durchzusetzen. Den Erpressungen der Nehmerländer, allen voran Spaniens, einem Beitritt osteuropäischer Staaten nur bei gleichbleibenden eigenen Subventionen zuzustimmen, muß entschiedener entgegnet werden. Denn ohne Hilfe der europäischen Staatengemeinschaft wird Polen den Sprung in die Gemeinschaft nicht schaffen - ein langfristig feststehendes Armutsgefälle an Oder und Neiße würde dem deutschem Interesse entgegenstehen.


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