© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   49/01 30. November 2001


Wenn die Toten schreien
Die Vertreibung ist das unbewältigte Kapitel der Deutschen
Doris Neujahr

Der ZDF-Redakteur Guido Knopp ist der Deutschen bester Seelentherapeut. Nach dem er Hitler, ihre zentrale Schicksalsgestalt, in epischer Breite dargestellt hat, widmet er sich instinktsicher der Vertreibung. Auch sie ist eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Ist die Vertreibung ein Tabu? Ja und nein! Nein, weil sie wie nur weniges die deutsche Innen- und Außenpolitik gefordert und beschäftigt hat. Die Vertriebenen stellten lange eine erhebliche Wählerschaft und eine faktische Sperrminorität dar. Ihre Versorgung mit Nahrung und Wohnraum, dann ihre wirtschaftliche, soziale und irgendwann auch gesellschaftliche Integration war eine Herkulesarbeit, die viele Jahre alle Energien - auch ihre eigenen - forderte.

Die Vertreibung hat den deutschen Osten ausgelöscht und zugleich die Aufnahmegebiete in West- und Mitteldeutschland stark verändert. Zuerst waren die besitzlosen Vertriebenen eine zusätzliche Konkurrenz im Kampf um das Notwendigste. Vor allem in den ländlichen Gebieten fühlten die Einheimischen sich überfordert. Bayern hatte 1939 1424 konfessionell einheitliche Gemeinden, 1946 noch ganze neun. Spottverse wie dieser kursierten: „Unsere Farbe ist blauweiß / unser Feind das ist der Preiß / ob aus Schlesien, aus Berlin“.

Wenigstens in den deutschen Wald-und Wiesenfilmen, die bis in die sechziger Jahre gedreht wurden, erfuhren die Konflikte, Verletzungen und Sehnsüchte eine harmonische Lösung, indem verständnisvolle, in anheimelnder Landschaft verwurzelte Schwarzwaldbauern oder Bodenseefischer melancholischen Flüchtlingsmädchen aus Masuren oder Schlesien auf dem ererbten Familienanwesen ein neues Zuhause bereiteten. Das versteinerte Gesicht Willy Brandts bei der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags im Dezember 1970 spricht Bände. Die Erinnerung an die Vertreibung hat die Beziehungen zu Polen, zur Tschechoslowakei und zur Sowjetunion, zusätzlich zum Ost-West-Konflikt, jahrzehntelang blockiert und vergiftet. Ihr langer Schatten fällt noch auf die Beitrittsverhandlungen der Osteuropäer zur EU.

Die Vertreibung ist also in der bundesdeutschen Gesellschaft vielfach präsent gewesen. Inzwischen aber wird sie nur noch insoweit in den Blick genommen, wie die Bewältigung ihrer Folgen sich als bundesdeutsche Erfolgsgeschichte verkaufen läßt.

Hier genau liegt das Problem, denn dieses montröse Ereignis konnte nur in Teilbereichen bewältigt werden. Denn einen Menschen gewaltsam aus seiner Heimat herauszureißen, unter Wegnahme der persönlichen Habe und planmäßiger Vernichtung der materiellen Erinnerungen an Herkunft und Vergangenheit, bedeutet, ihn „im Geiste“ zu töten, wie es in der Charta der Vertriebenen von 1950 heißt. Dieses Töten geschah millionenfach, und oft nicht nur im Geiste. In Knopps Film wird, untermauert durch Augenzeugen, die Opferzahl im ostpreußischen Nemmersdorf von rund 60 auf etwas über 20 reduziert. Aber was bedeutet das schon? Es gab hunderte Nemmersdörfer, wo Rotarmisten den Leuten die Arme und Beine abhackten und die noch Lebenden den Schweinen zum Fraß vorwarfen.

Hier ist etwas geschehen, was nicht wiedergutzumachen ist. Der Verlust an kultureller Substanz, das unaufhaltsame Verschwinden alter Dialekte zum Beispiel, bildet noch ein zusätzliches Kapitel. Das alles summiert sich zu einem Völkermord, der nie beim Namen genannt und aufgearbeitet, geschweige denn bestraft oder moralisch kompensiert worden ist. Intern konnten die Deutschen vieles abmildern, die Vertriebenen fanden sich zu Not- und Trostgemeinschaften zusammen, doch sie hatten nie Gelegenheit, Schmerz und erlittenes Unrecht nach außen zu artikulieren oder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Zunächst waren die Deutschen politisch handlungsunfähig, gelähmt auch durch das Bewußtsein eigener Schuld, und später fanden sie es klüger, die Emotionen zu zügeln, um wenigstens die Option einer Vereinigung zwischen der BRD und der DDR zu erhalten.

Man weiß aus der Psychologie der Folter, daß die Knebelung des Delinquenten dessen Qual steigert. In diesem Fall blieb als Fluchtweg die Verdrängung des Phantomschmerzes. Die Politmoralisten, die eine sadomasochistische Perfektion darin entwickelt haben, diejenigen zu drangsalieren, die sich nicht der ritualisierten Sprache unterwerfen und ihre Leiden als sekundär begreifen, sind nur der unansehnlichste Ausdruck dieser kollektiven Verdrängung. Ihr unablässiges „Mea culpa“ ist die Zauberformel eines magischen Politik-und Geschichtsdenkens, in das man sich vor dem Bewußtsein erlittener Schmerzen und Verluste geflüchtet hat.

Dieser Hokuspokus hat es an sich, immer neue Verrücktheiten nach sich zu ziehen. Man kann Archivalien und Kulturgüter der alten Ostgebiete den heutigen Bewohnern ja durchaus zu treuen Händen übergeben, aber muß man diesen Akt gleich als „Rückführung“ bezeichnen und so eine Parallele zur Beutekunst herstellen? Aber vielleicht ist die aktuelle Melange aus Spaßgesellschaft und historischer Amnesie nicht die letzte deutsche Kulturstufe. Es ist die Frage, woher eine Besserung kommen könnte, und was ihre Voraussetzungen und Inhalte wären. Vor allem müßte der Verlust erst einmal begriffen und akzeptiert werden, um das, was trotzdem geblieben ist, annehmen und würdigen zu können. Doch die Institutionen der Vertriebenen verfügen über keine Wirkungsmacht mehr, und die politischen Elite ist durchweg mit Opportunismus und einer spezifischen Art von Geschichtsblindheit geschlagen. Mehr Freiraum bieten Wissenschaft und Publizistik, doch auch hier ist die Neigung zum politisch korrekten Gleichklang unübersehbar.

Bleibt die Kunst, vor allem die Literatur, mit ihren Möglichkeiten zum polyphonen und mehrschichtigen Erzählen. Es ist kein Zufall, daß Autoren aus den Vertreibungsgebieten in der Crème der deutschen Nachkriegsliteratur überproportional vertreten sind. Inzwischen bietet sogar die polnische Literatur bi- oder multinationale Erzählweisen, die den deutschen Osten in einem neuen, überraschenden Licht zeigen. So der kürzlich erschienene Erzählband „Silberregen“ des Danziger Polen Pawel Huelle, Jahrgang 1957. Die von E.T.A. Hoffmann und Günter Grass beeinflußte Prosa spielt in seiner Heimatstadt. Huelle kennt keine nationalen Begründungszwänge, die deutsche Vergangenheit und die polnische Gegenwart sind lebendige Muster, die sich übereinander schieben und neue, spannende Konfigurationen ergeben. Nach absolvierter Seelentherapie des Prof. Dr. Knopp könnte dieses Buch uns einen Weg ins Freie weisen.


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