© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Der große Unbekannte
Kino: „Das Geheimnis“ von Virginie Wagon
Ellen Kositza

Marie arbeitet als Vertreterin, sie zieht von Tür zu Tür, um eine exklusive mehrbändige Enzyklopädie zu verkaufen. Die Arbeit gefällt ihr, sie sieht darin eine Abwechselung zur Betreuung ihres zweijährigen Sohnes Paul. Marie ist 35 und seit 12 Jahren mit Francoise verheiratet, sie führen eine gute Ehe, unternehmen viel miteinander, teilen die Erziehungsarbeit. Francoise wünscht sich ein zweites Kind, Marie ist sich nicht völlig sicher. Mit einem weiteren Kind, so erklärt sie Paul ihr Zögern, fühle sie ihr Leben in eine unabänderliche Bahn gezwängt. Dennoch setzt sie die Pille ab. Eines Tages klingelt sie bei Bill, einem schwarzen Hünen, der zurückgezogen in der Pariser Wohnung eines Freundes lebt. Marie ist fasziniert von dem Fremden, einem ehemaligen Tanzlehrer, der nun seinen Tag mit erfülltem Nichtstun verbringt, wie er sagt. Einziger aktiver Zeitvetreib ist der gelegentliche Geschlechtsverkehr mit seiner ebenfalls alleinstehenden und ebenfalls schwarzen Nachbarin. Ob das nicht eine komplizierte Beziehung sei, vor allem für die Frau, will Marie wissen. Nein, „Afrikaner schnackseln halt gern“ (Gloria von Thurn und Taxis), darüber staunt Marie, die sich zunächst gewohnt distanziert gibt, aber dem großen Unbekannten längst verfallen ist. Sie sucht ihn unter - für Bill, der sich seiner Wirkung bewußt ist, durchschaubaren - Gründen noch einige Male auf und läßt sich schließlich verführen. Dabei liebt sie nicht ihn, sondern Francoise, redet sie sich ein, und daß es allein um Sex ginge. Doch natürlich ist die Affäre für ihr Innenleben viel komplizierter. Ihre gesamte Zukunft , das wohldosierte Glück mit Mann und Kind, erscheint plötzlich in Frage gestellt. Und eigentlich wollte sie genau das: ihren so absehbaren Lebensweg in Frage stellen. Einmal, als sie allein bei Bill ist, schaut sie sich ein Video an, daß den Schwarzen in seinem New Yorker Tanzstudio beim Unterrichten zeigt. Er ahmt das Leben nach, das Feuer, den Rausch, kritisiert die hervorragenden Schüler, und genau das ist zu wenig. Sex mit Bill ist animalisch, und eines Tages verbirgt Marie nicht mehr die Bißwunden ihres heimlichen Liebhabers. Francoise ist ein moderner, ein aufgeklärter Mann, doch Maries Schweigen zu seinen Fragen („Wer ist es? Ist es Liebe? Was soll aus uns werden?“) macht ihn rasend. Auch Marie leidet, doch selbst, als sie sich eines Nachmittags von Francoise verfolgt weiß, fährt sie zu Bill. Zutiefst verletzt wartet er Stunden vor dem Haus und erklärt dann per Mobiltelefon seine Liebe zu Marie für gestorben. Mit Bill jedoch, das weiß Marie, wird es kein dauerhaftes Glück geben...

„Le Secret“ ist ein weiteres Produkt der jungen Berliner Filmgesellschaft „X Verleih“, die ein Konzept verfolgt, in dem Regisseure, Autoren, Produzenten und Verleih inhaltlich und wirtschaftlich von der ersten Idee bis zum Kinostart eng zusammenarbeiten - ein Modell, das sich bei den drei ersten Filmen „Der Krieger und die Kaiserin“, „Heidi M.“ und „Wie Feuer und Flamme“ vorzüglich bewährt hat.

Im Vergleich zu diesen herausragenden Vorgängern schneidet die internationale Produktion „Das Geheimnis“ bescheiden ab, eine typisch französische Intimgeschichte mit deutlichen Anklängen an Breillats „Romance“ und Kureishis „Intimacy“, deren Niveau jedoch nicht erreicht wird. Dennoch ist der Film ein wenig vielschichtiger, als es die Kernhandlung - französische Ehefrau und Mutter verfällt schwarzem Sex-Magier - nahelegt. Er darf sich einreihen als weitere Folge des durchaus aussagekräftigen Moderne-Frau-in-existentieller-Krise-Films.


 
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