© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Mehr Prag als Karlsbad und Eger
Frank-Lothar Krolls Sammelband zur literarischen Landschaft Böhmens
Matthias Bäkermann

Jahre vor dem Mauerfall deutete sich die Implosion des Ostblocks auf dem westdeutschen Buchmarkt an. Natürlich nicht in Veröffentlichungen professioneller Experten „internationaler Beziehungen“, die dem Status quo huldigten.

Die Reiseführer für kommende Entdeckungsreisen in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang schrieben historisch gebildete Außenseiter wie Bernard Wilms und Josef Kleinewefers, die sich auf „Mitteleuropa“ besannen oder linke Publizisten wie Jürgen Serke, der 1987 einen opulent bebilderten Band über deutsche und jüdische Schriftsteller vorlegte, die bis 1938/39 das literarische Leben in der Tschechoslowakei prägten. Im Widerspruch zum Titel seines Werkes „Böhmische Dörfer“ unternahm Serke jedoch weniger historische Exkursionen in die sudetendeutsche Provinz. Vielmehr - auch aus Gründen linker Traditionsstiftung, der er schon in seinem Bestseller über „Die verbrannten Dichter“ (1977) gehuldigt hatte - traten die nach 1938 in alle Welt verstreuten und nach 1945 von ihrem deutschen Lesepublikum vergessenen Repräsentanten der Prager Literaturszene ins Bewußtsein, aus der allenfalls noch Franz Kafka präsent blieb.

Gleichwohl wird man eine Aufsatzsammlung zur Literaturgeschichte Böhmens, die - wie ihr Herausgeber Frank-Lothar Kroll im Untertitel verspricht - die „Vielfalt und Einheit einer literarischen Provinz“ erfassen soll, an Serkes Vorgabe messen. Im Vergleich zeigt sich dann, daß Krolls Beiträger sich sowenig wie Serke um die sudetendeutsche Literatur kümmern, genauer: Nicht um einst wirkungsmächtige Schriftsteller, die wie Wilhelm Pleyer, Gottfried Rothacker oder Karl Hans Strobl aus dem „Volkstumskampf“ heraus zum Nationalsozialismus fanden. Allein der Münchner Germanist Peter Becher würdigt diesen Aspekt böhmischer Literaturgeschichte in einer knappen Skizze, während in Krolls Porträt über Josef Mühlberger nicht recht deutlich wird, warum dessen auf Verständigung gerichteter christlicher „Europäismus“ im deutsch-tschechischen Gegeneinander der dreißiger Jahre chancenlos war. Ansonsten wählt dieser Band mit Prag, den literarischen „Pragbildern“, die Helga Abret Revue passieren läßt oder Jutta Radczewski-Helbigs Paraphrase der im Exil entstandenen Werke des Prager Autors Franz Werfel, einen Schwerpunkt, der hinter Serkes „Vielfalt“ merklich zurückfällt. Dieses Manko wird auch durch die Einleitung der 1912 in Pilsen geborenen Gertrud Fussenegger nicht behoben, die einen bei Adalbert Stifter beginnenden Abriß über „Böhmen in der deutschen Literatur“ riskiert, um den „Reichtum“ dieses literarischen Erbes zu vermitteln.

Einen eigenen Akzent setzen hingegen drei Beiträge über „Böhmische Autoren in der DDR“, die sich auf Franz Fühmann konzentrieren. Fühmann, gläubiger Katholik, Nationalsozialist, und schließlich Kommunist, half als parteifrommer SED-Autor kräftig mit, die offizielle Geschichtsfälschung über die mit „Umsiedlung“ angeblich gerecht bestrafte Politik der „Sudetenfaschisten“ unters Lesevolk des Arbeiter- und Bauernstaates zu streuen. 

Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Böhmen. Vielfalt und Einheit einer literarischen Provinz. Duncker&Humblot, Berlin 2000, 179 Seiten, 48 Mark


 
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