© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Wirkmächte der modernen Gesellschaft
„Syndrom“ mit Zukunft oder nur noch für Historiker interessant: Neuerscheinungen zum Thema Totalitarismus
Wolfgang Müller

Haben politische Ideen ihre Wirkungsmacht dann unwiederbringlich verloren, wenn sich der wissenschaftliche Tagungszirkus intensiv mit ihnen zu beschäftigen beginnt? Dann würden die zwei Kolloquien, die noch vor Weihnachten in Potsdam bzw. in Dresden dem „Totalitarismus“ gewidmet sind, und die sich in eine seit Jahren nicht abreißende Kette von gelehrten Disputationen zu diesem Thema einreihen, also einen Prozeß umfassender Historisierung anzeigen, der jede Warnung vor „totalitären Versuchungen“ als Geisterbeschwörung erscheinen läßt.

Dabei sieht es so aus, als würde nicht nur das Phänomen selbst, jene totalitären Bewegungen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die die moderne Entzweiung von Politik und Religion wieder aufheben und die pluralistische Industriegesellschaft in ein neues Mittelalter, in geschlossene Systeme eines „tausendjährigen Reiches“ oder eines „Paradieses der Werktätigen“, transformieren wollten, seine Faszinationskraft nur noch auf Historiker ausüben. Denn für den an Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) tätigen Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar sind die politischen Religionen des Marxismus, des Faschismus und Nationalsozialismus bereits so uninteressant, daß er sich ausschließlich mit den „Totalitarismustheorien“ befaßt. Schon die ersten Ansätze dazu, die in den zwanziger Jahren den Begriff des Totalitarismus am Faschismus Mussolinis entfalteten, wurden als Waffen im politischen Kampf geschmiedet. Entsprechend lassen sich die Hauptwerke der Totalitarismustheorie, Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ (1955) etwa, die „Totalitäre Diktatur“ von Joachim C. Friedrich und Z. K. Brzezinski (1957) oder die Frühwerke des bundesdeutschen Altmeisters Karl Dietrich Bracher nicht aus ihrem Entstehungsmilieu, der Zeit des Kalten Krieges, lösen, das den antisowjetischen Gebrauchswert dieser Theorien von vornherein bedingte. Kraushaars Darstellung setzt jedoch erst Ende der sechziger Jahre ein und schildert minutiös, wie ein linkes, in der Studentenbewegung geknüpftes Netzwerk daran ging, die Totalitarismustheorie zu delegitimieren. Bald nach 1968, im Zeichen der neuen Ostpolitik, galt sie mindestens als „entspannungsfeindlich“. Auch dank des Einflusses, über den die ideologischen Entwicklungshelfer der SED und des MfS im westdeutschen Linksintellektualismus verfügten, habe der „Antifaschismus“ die Totalitarismustheorie so nachhaltig diskreditert, daß die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus auch nach 1989 als Spielart „faschistischer“ Propaganda und als schändliche „Leugnung“ der „Singularität“ jenes verbrecherischen Systems diffamiert werden konnte, das den „Holocaust“ zu verantworten habe. Ausgerechnet ein Schüler Ernst Noltes, der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, der Verfasser einer höchst nützlichen kleinen Übersicht über die Totalitarismustheorien (1997), fiel durch entsprechend hysterische Tiraden auf, mit denen er auf das „Schwarzbuch des Kommunismus“ reagierte: Da ja der Sowjetkommunismus stets im humanistischen Sinn die „Emanzipation der Massen“, der „Faschismus“ aber deren Unterwerfung angestrebt habe, verbiete sich jeder Vergleich im Begriff des „Totalitären“. Kraushaar zählt diesen gegen die Totalitarismustheorie gerichteten Anti-Antikommunismus, der sich beharrlich weigere, die verbrecherische Qualität des siebzigjährigen sowjetischen Experiments zur Kenntnis zu nehmen, immer noch zum Herzstück linken Selbstverständnisses. Eine politische Gefahr geht nach seiner Ansicht von diesen marginalisierten und durch ihre einstige Kooperation mit den Mielke-Gesandten diskreditierten Gruppen aber nicht mehr aus. Da ließen Kapitalismus, Liberalismus und Industrialismus schon eher den Umschlag ins Totalitäre befürchten. Kraushaar muß sich deshalb bestätigt gefühlt haben, als vor kurzem auf dem Management-Forum in Davos die Vision der „Demokratur“ auftauchte: Nur noch autoritäre Staaten würden die wachsende Zahl der Globalisierungsverlierer im Zaum halten können und so „fit“ werden für die eskalierenden globalen Verteilungskämpfe.

Die Ideen von 1789 sind die Fundamente der Moderne

Kalkulationen über die Möglichkeit eines Umschlags der Demokratie westlichen Typs in totalitäre Herrschaft hielt ein Zeitgenosse Hannah Arendts, der jüdische Ideenhistoriker Jacob Talmon (1916-1980), schon deshalb für plausibel, weil er die Ursprünge des totalitären Denkens auf jenen naturrechtlichem Rationalismus zurückverfolgte, der die Ideen von 1789 speiste, also die ideologischen Fundamente der liberalen Gesellschaft und des demokratischen Staates legte. An den fast vergessenen Talmon erinnerte der Stuttgarter Emeritus Klaus Hornung vor einem Jahr in einem ausführlichen Aufsatz in der Zeitschrift für Politik (siehe JF 39/00), der jetzt wieder in einer Sammlung seiner „Studien zum Totalitarismus im 20. Jahrhundert“ erschienen ist. Eingehender als Kraushaar thematisiert Hornung auch das Phänomen selbst, den deutschen und den sowjetischen „Parteienstaat“, obwohl der von ihm geschilderte „Zusammenstoß“ Hitlers und Stalins den Zweiten Weltkrieg vielleicht perspektivisch etwas zu sehr auf den Gegensatz des deutschen und des sowjetrussischen Totalitarismus verengt. Entscheidender ist aber, daß Hornung wie Kraushaar von virulenten totalitären Dispositionen, von einem latenten „Despotismus der demokratischen Nationen“ ausgeht, obwohl auch er nicht mit einer Wiederkehr der historischen Phänotypen des 20. Jahrhunderts rechnet. Ob des „Kaisers neue Kleider“, wie Hornung andeutet, wirklich aus einem linken Stoff gewebt sein werden, also uns eine „antifaschistische Demokratie“ oder gar eine „ökopolitische Diktatur“ ins Haus stehen könnte, darüber mag man mit diesem Politikwissenschaftler ebenso streiten wie mit seinem jüngeren Kollegen Kraushaar, der vage mit der totalitären Metamorphose des „industriellen Systems“ (Ernst Nolte) rechnet, ohne die kapitalistische Funktionalität der pluralistischen Gesellschaft adäquat einzuschätzen.

Die Totalitarismustheorien der fünfziger Jahre hat der französische Publizist Thierry Wolton aufmerksam gelesen, und so einleuchtend gefunden, daß sie ihm die komplette Architektonik seiner vergleichenden Untersuchung der Regime Hitlers und Stalins liefern. Ganz in der Tradition französischer Intellektueller, für die Alexander Solschenyzins „Archipel Gulag“ den Abschied von der kommunistischen Utopie einläutete, ist Thierry deshalb unbefangen genug, um zwischen „Rot“ und „Braun“ keine nennenswerten Unterschiede mehr zu machen, sondern ihnen eine grundlegende geistige Verwandtschaft zu attestieren, die im gemeinsamen Haß auf die „liberale Idee“ und deren demokratisches Gesellschaftsmodell wurzele. Obwohl auch der Sozialismus wie der Liberalismus ein „Kind der Aufklärung“ gewesen sei, hätten sich schon während der Französischen Revolution die Wege für immer getrennt, so daß Thierry bei den westlichen liberal-demokratischen Systemen keine totalitären Potentiale mehr ausmacht. So kann er in seiner historischen Überschau demonstrieren, wie sich Sozialismus und Nationalismus im 19. Jahrhundert verbinden und wie im 20. Jahrhundert der deutsche und der sowjetrussische Totalitarismus zusammengehen.

Der Hitler-Stalin-Pakt war mehr als Taktik

Die Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee, das Rendezvouz des Nationalbolschewismus mit dem Leninismus, die Bündnisse zwischen KPD und NSDAP im Kampf gegen das „System“ von Weimar, schließlich der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 - für Thierry spiegelt dies nicht nur ein taktisches Zusammengehen wider, sondern offenbart nur die Wesensgleichheit der Ideologien. Auch die vielfach noch zur Begründung einer prinzipiellen Differenz geltend gemachte „Singularität“ der nationalsozialistischen Rassenideologie und des daraus resultierenden „Vernichtungskrieges“, verschwinden in Thierrys Modell von der geistigen Identität zweier Herrschaftsformen. Denn die Nationalisierung der Massen sei ein festes Fundament des roten wie des braunen Totalitarismus, die Nation ein so starkes Bindemittel des sozialen Zusammenhalts gewesen, daß die „Möglichkeit zum Antisemitismus“ und zur „rassistischen Ausgrenzung“ nicht auf die deutsche Variante beschränkt sei. Im „Anti-Zionismus“ des stalinistischen Nationalkommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg sieht Thierry eine Bestätigung dieser These.

Wie Kraushaar und Hornung beschäftigt sich auch Thierry mit der „Zukunft des Syndroms“, die für ihn weder in einer Reanimation jener historisch gewordenen Formen, die das 20. Jahrhundert zum „totalitären Zeitalter“ gemacht haben, noch in den - von ihm ja ausdrücklich negierten - liberal-demokratischen Möglichkeiten zu totalitären Mutationen liegt. Die pluralistischen Gesellschaften der westlichen Moderne gebären keinen Totalitarismus mehr aus ihrer eigenen Mitte, aber ihre universalistische Tendenz, die unter der Fahne der Globalisierung weltumspannend Raum greift, provoziere eine neue, oft religiös vermittelte Verbindung von Nationalismus und Sozialismus. Nicht nur der radikale Islamismus stehe dafür. Thierry glaubt auch in China, auf dem indischen Subkontinent und im russischen Reich totalitäre Versuchungen ausmachen zu können und zitiert 1999, in der französischen Originalausgabe seines Werkes, aus ultranationalistischen russischen Publikationen eine von vielen Passagen, die versprechen, den Eiffelturm in Schrott zu verwandeln und „Washington in Asche“ zu legen.

Um solche Schreckensgemälde sorgen sich die Beiträger eines von Leonid Luks, dem Osteuropa-Historiker der Katholischen Universität in Eichstätt und seinem Assistenten Donal O‘Sullivan herausgegebenen Sammelbandes über deutsche und russische „Sonderwege“ nicht im geringsten. Vor allem einen Rückfall Deutschlands in totalitäre Alternativen schließt der Münchner Philosoph Peter Ehlen kategorisch aus: dazu sei die europäische Verflechtung einfach zu weit fortgeschritten. Von aktuellen Befürchtungen daher nicht mehr bedrängt, kann man sich der historischen Analyse widmen, was gerade die zahlreichen russischen Autoren zu geistesgeschichtlichen Herleitungen verführt, die den Einfluß realpolitischer Faktoren auf die Machtergreifung der Bolschewiki unterschätzt. So findet die Ausgangsfrage, ob die letztlich in „Auschwitz und Archipel Gulag“ mündende deutsche und russische Entwicklung mit der „Verspätung“ beider Völker im Prozeß der Modernisierung zu erklären ist, keine befriedigende Antwort. Folglich können die Herausgeber nur zu einer hilflosen Distanzierung greifen, um den interessantesten Beitrag, Manuel Sarkisyanz‘ „Vision vom Dritten Rom und Dritten Reich“, zu stigmatisieren. Sarkisyanz vertritt nämlich die These, daß nicht autochthone, womöglich preußisch- „militaristische“ oder autokratisch-zaristische Traditionen und dunkle Sonderwege den Kurs Hitlers und Lenins festlegten, sondern der vom Angelsachsentum eingeschlagene „Normalweg“ gnadenloser Instrumentalisierung der Vernunft, auf dem Engländer und US-Amerikaner überholt werden sollten. Mit Max Horkheimer spricht Sarkisyanz darum von den „Faschismusmöglichkeiten“ als der „Wahrheit der modernen Gesellschaft“.

 

Wolfgang Kraushaar: Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 2001, 220 Seiten, 28 Mark

Klaus Hornung: Die offene Flanke der Freiheit. Studien zum Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. 2001, 174 Seiten, 36 Mark

Thierry Wolton: Rot-Braun. Der Pakt gegen die Demokratie von 1939 bis heute. Hoffmann und Campe, Hamburg 2000, 435 Seiten, 44,90 Mark

Leonid Luks/Donal O’Sullivan (Hg.): Rußland und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Zwei „Sonderwege” im Vergleich, Böhlau Verlag, Köln-Wien 2001, 237 Seiten, 49.80 Mark


 
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