© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Europa à la carte
von Jörg Horn

Allem Optimismus zum Trotz, wonach die Verhandlungen mit den ersten mittel- und ost-europäischen Beitrittskandidaten schon Ende 2002 abgeschlossen sein sollen, um ihnen eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ab 2004 zu ermöglichen, ist die Gesamteignung der meisten dieser Länder weiterhin unbefriedigend. Um zu verhindern, daß sich in stark zurückgefallenen Staaten wie Polen Verbitterung breit macht, könnte über Zwischenlösungen nachgedacht werden. Solche sind in der Politik- und Wirtschaftswissenschaft entwickelt worden und machen deutlich, wie die Bewerberländer die Zeit bis zu ihrem Beitritt sinnvoll nutzen könnten.

Eines der ersten Modelle zielte auf die Nutzung des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens (CEFTA) als „Warteraum“ und stieß anfangs sowohl in den EU-Institutionen als auch bei nationalen Politikern auf Gegenliebe. Man war 1992, dem Gründungsjahr der (später) Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Polen und Slowenien umfassenden CEFTA, mit der Verwirklichung des EG-Binnenmarkts vollauf beschäftigt und wenig geneigt, durch neue Mitgliedsdebatten dieses große Projekt zu verwässern.

Ähnlich gelagert war die Diskussion um den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), der von EG-Kommissionspräsident Jacques Delors in einer Rede vor dem Europäischen Parlament nur deshalb angeregt worden war, um die Mitglieder der Europäischen Freihandelszone (EFTA) von einem Beitrittsgesuch abzuhalten. Auch von diesen durchweg sehr wohlhabenden Ländern befürchtete man eine Störung des Binnenmarkt-Projekts. Delors setzte sich mit dem Vorschlag einer „institutionell strukturierten“ Beziehung durch. Die EWR-Mitglieder erhielten Zugang zum Binnenmarkt und übernahmen seine Gesetzgebung. Da der EWR nicht nur den freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsrecht, sondern auch Politikfelder wie Forschung, Technik, Soziales und Umwelt umfassen sollte, wurde er zu mehr als einer reinen Freihandelszone, blieb aber unter der Schwelle einer Zoll- oder Wirtschaftsunion. EWR-Mitglieder, die nicht der EU angehören, werden bei Entscheidungen auch nur befragt, nicht aber beteiligt. Zwar können sie relevante Themen auf die Tagesordnung setzen, doch fallen Entscheidungen einstimmig.

Burkhard Steppacher regte an, die mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten sollten dem EWR beitreten. Sensible Waren wie landwirtschaftliche Erzeugnisse, Textilien, Kohle und Stahl blieben seiner Vorstellung nach von der Vereinbarung ausgeklammert. Auch der Zahlungsverkehr, die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit würden nur schrittweise liberalisiert. Im Unterschied zu den derzeit bestehenden Assoziierungsabkommen könnten die neuen Mitglieder dann ihre Auffassungen in den Entscheidungsprozeß einbringen und mit den Abläufen vertraut werden. Das gälte, so Steppacher, auch für die weitgehend zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der sogenannten zweiten und dritten Säule der EU (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Justiz und Inneres).

War Steppachers Idee noch relativ moderat, so plante Richard Baldwin gleich eine institutionelle Revolution. Überzeugt davon, „daß die Ost-Erweiterung vorbehaltlich weltbewegender politischer Ereignisse für mindestens zwei Jahrzehnte unwahrscheinlich ist“, und wohl insgeheim auch der Ansicht, daß das ganz gut so sei, baute er als Zwischenlösung auf ein „paneuropäisches Handelssystem mit drei konzentrischen Kreisen“.

Zunächst dachte Baldwin an die Gründung einer „Vereinigung von Assoziierungsabkommen“ mit eigener Behörde, in der die EU samt allen mit Assoziierungsabkommen ausgestatteten Bewerberstaaten aufgenommen würde. Im Geltungsbereich dieser „Vereinigung“ herrschte fortan zollfreier Handel mit Industriegütern. Eine zweite Stufe sähe die Einrichtung einer „Organisation für Europäische Integration“, welche die EU-Staaten sowie fortgeschrittene Bewerberländer umfaßte. Zwar garantierte die Organisation gegenseitigen Binnenmarktzugang, schlösse jedoch sensible Bereiche wie Landwirtschaft, Zuwanderung, Strukturhilfe und Stimmrechte im EU-Ministerrat aus. Die EU-dominierte Verwaltung der Organisation wäre dann für Wettbewerb, Beihilfen und gegenseitige Anerkennung von technischen Standards zuständig. Baldwins dreikreisiges Europa bestünde demnach aus dem inneren Zirkel (EU), einem zweiten Kreis (EU und fortgeschrittene Bewerberstaaten) und schließlich einem dritten Ring, der auch schwache Oststaaten mit ins paneuropäische Boot nähme.

Auch Jürgen von Hagen setzte sich für eine Aufschiebung der Erweiterung ein. Im Gegenzug solle die EU aber bereits alle Zölle und quantitativen Handelsbeschränkungen abschaffen, jedoch die Möglichkeit behalten, bei Nichterfüllung von Qualitätsanforderungen Handelshemmnisse beschließen zu können. Somit könnten Wettbewerbsvorteile, die beispielsweise durch umweltunfreundliche Produktion entstünden, ausgeglichen werden. Ein unabhängiger „Beitritts-Rat“ überwachte den Handel. Schließlich regte von Hagen an, die mittel- und osteuropäischen Staaten sollten auch untereinander Institutionen gründen, so zum Beispiel eine Wettbewerbsbehörde. Dies ermöglichte nicht nur einen Erfahrungsaustausch, sondern stärkte auch die Verhandlungsmacht dieser Staaten gegenüber der EU.

Es blieb jedoch bei allen oben geschilderten Modellen unbeachtet, daß eine Assoziierung nicht nur nach Politikfeldern, sondern auch geographisch abgestuft erfolgen kann. Dabei haben die „aktuellen Forderungen nach einem Europa mit ,mehreren Geschwindigkeiten‘ bzw. einem Europa ,à la carte‘ längst in die Gemeinschaftspraxis Eingang gefunden“, und zwar in Form teilweiser geographischer Anbindung an die Europäische Union.

Im (noch) britischen Gibraltar beispielsweise gelten EG- und EU-Vertrag nur eingeschränkt, da die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), das Wettbewerbsrecht und die Zollunion nicht gelten. Die Einwohner nehmen zudem nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teil. Die britischen Kanalinseln und die Isle of Man stehen außerhalb des Gemeinschaftssystems, werden aber bei Zollangelegenheiten und quantitativen Beschränkungen als zugehörig angesehen. Von Seiten der Isle of Man werden auch keine Abgaben an den EU-Haushalt geleistet. Akroliri und Dhekalia, britische Stützpunkte auf Zypern, stehen völlig außerhalb der EU. Dänemarks Faröer gehören nicht zur EU, obschon es Sonderregelungen für die Milch- und Fischereiwirtschaft der Inselgruppe gibt. Grönland, 1985 aus der Europäischen Gemeinschaft ausgetreten, hat hingegen den Status eines Überseegebiets. Finnlands von Schweden bewohnte Aland-Inseln sind zwar in die EU integriert, doch können die klassischen „Freiheiten“ der Niederlassung und Dienstleistungen nicht beansprucht werden. Die französischen Überseedepartements sind von verschiedenen Politikbereichen ausgenommen, Spaniens Kanarische Inseln nehmen am freien Warenhandel, der GAP sowie der Gemeinsamen Fischereipolitik nicht teil, haben aber Binnenmarkt-Zugang. Spaniens nordafrikanische Exklaven Ceuta und Melilla gehören wie die von französischem Gebiet umschlossene Exklave Llivia nicht zum Zollgebiet, müssen aber keine Zölle zahlen. Schon vor Österreichs EU-Beitritt gehörten die österreichischen Gemeinden Jungholz (Tirol) und Mittelberg (Vorarlberg) als deutsche Zollenklaven zum EU-Zollgebiet. Das italienische Augsttal und die griechische Mönchsrepublik Athos gelten als Freizonen, in denen einzelne Waren behandelt werden können, als wären sie nicht auf EU-Gebiet. Zollenklaven sind außerdem Helgoland, das deutsche, aber in der Schweiz liegende Dorf Büsingen sowie die zu Italien gehörenden Orte Campione d’Italia, Livingo und der südliche Teil des Lauiser Sees. Die italienischen Gebiete sind auch von den Wettbewerbsregeln ausgenommen.

Ein weiteres Beispiel gehört inzwischen der Geschichte an. Bei den Verhandlungen zum EWG-Vertrag gelang der Bundesregierung die Aufnahme eines Protokolls zum innerdeutschen Handel, wonach der Vertrag den bestehenden Handel zwischen Westdeutschland und den anderen deutschen Gebieten nicht beeinträchtigen durfte. Die anderen deutschen Gebiete waren Mittel- und Ostdeutschland. Vor 1990 war Handel mit ihnen weder Innen- noch Außenhandel: Für die Bundesrepublik war er binnengerichtet, für die anderen Mitgliedstaaten Außenhandel. Mittel- und Ostdeutschland waren folglich ein Gebiet sui generis: nicht Vollmitglied der Zollunion, aber auch ohne Drittstaat-Status. Noch heute ermöglichen Artikel 78 und 87 (2) c EG-Vertrag der Bundesregierung Maßnahmen zur Behebung der durch Deutschlands Teilung verursachten wirtschaftlichen Probleme. Deutschland kann demnach in Regionen, die unverändert unter den Folgen der Teilung leiden, nationale Bestimmungen zum Beispiel im Bereich Infrastruktur beibehalten, die an sich gegen EG-Recht verstoßen.

So zeigen diese vielen Beispiele, daß mehrere EU-Mitgliedstaaten nicht mit ihrem vollständigen Staatsgebiet in die EU integriert sind und man in der Debatte über eine schrittweise Heranführung der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht nur über eine Assoziierung von Politiken, sondern auch Regionen sprechen kann. Mit einer Mitgliedschaft geeigneter Regionen hätten die betreffenden Staaten einen Fuß in der EU-Tür und könnten Einfluß auf die Entscheidungen der Organisation nehmen. Welche Regionen kommen hierfür in Frage? Solche, die bereits stark mit dem EU-Gebiet verbunden sind, einen hohen Entwicklungsstand aufweisen oder aus geographischen Gründen rasch zum EU-Gebiet gehören sollten.

Das trifft zum Beispiel zu auf die an Deutschland grenzenden Teile Polens. In den nach dem Zweiten Weltkrieg an Oder und Neiße geteilten Städten Görlitz, Frankfurt/Oder und Guben arbeiten die deutschen und polnischen Stadtteile bereits sehr eng in den Bereichen öffentliche Ordnung, Polizei, Regionalplanung, Infrastruktur, Handel, Industrie, Kultur und Stadtplanung zusammen und verfügen über gemeinsame Ausschüsse, Schulen, Kindergärten, Infrastruktureinrichtungen - selbst Sitzungen der Stadträte werden teilweise gemeinsam abgehalten.

Die frühzeitige Integration der nicht zuletzt recht wohlhabenden polnischen Stadtteile von Görlitz, Frankfurt und Guben in die EU ginge in eine ähnliche Richtung wie der 1991/92 von der brandenburgischen Landesregierung entwickelte sogenannte Stolpe-Plan, der eine 53.000 Quadratkilometer große deutsch-polnische Sonderwirtschaftszone anregte. Diese Sonderwirtschaftszone sollte dem Beispiel der österreichischen Exklaven Jungholz und Mittelberg folgen und den östlichen (polnischen) Teil der Insel Usedom in den deutschen Wirtschafts- und Währungsraum einbinden.

Im Sinne des Stolpe-Plans könnte auch an eine modifizierte Wiedereinführung des früheren Protokolls über den innerdeutschen Handel gedacht werden. Denn das Paradoxon besteht darin, daß ein Drittel des heutigen polnischen Staatsgebiets 1990 bereits an die EG angebunden war, dann jedoch durch Aufhebung des Protokolls ausschied. Eine Aktualisierung des Protokolls könnte Westpolen schon jetzt von der EU profitieren lassen (Binnenmarktzugang, Euro) und den Beitritt Gesamtpolens unumkehrbar machen. Zudem würden dann die etwa 700.000 EU-Bürger in den Oder-Neiße-Gebieten (die Angehörigen der deutschen Minderheit mit deutscher Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 116 I des Grundgesetzes) auch wirklich innerhalb der EU leben. Ferner könnte Deutschland, gestützt auf die Artikel 78 und 87 (2) c des EG-Vertrags, die deutsch-polnische Grenzregion entlang der Teilungslinie von Oder und Neiße unterstützen, die - wie man zum Beispiel an den Problemen der geteilten Städte leicht sieht - wirtschaftlich benachteiligt ist.

Ein drittes Beispiel für eine territoriale Teilmitgliedschaft ist die zwischen Polen und Litauen gelegene russische Exklave Königsberg. Sie spielt schon jetzt eine hervorgehobene Rolle im Verhältnis der Europäischen Union zu Rußland, da das Gebiet nach dem Beitritt Polens und Litauens eine Enklave inmitten der EU sein wird. Im Oktober 2001 schlug der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Hans-Ulrich Klose (SPD), vor, das Gebiet in die EU einzubinden. Er sähe keine Möglichkeit für eine schnelle Mitgliedschaft Rußlands in der EU. Weil Rußland aber Europa wirtschaftlich brauche, solle das Königsberger Gebiet „durch Vereinbarungen faktisch zu einem Teil der EU“ gemacht werden.

Wenn man so will, sind territoriale Teilmitgliedschaften in der EU wie die Großbritanniens, Frankreichs oder Dänemarks eine Facette des „Europas à la carte“, in dem ein Staat nur einen Teil des Menüs für nur einen Teil seines Staates auswählt. Der Vergleich einer möglichen EU-Vollmitgliedschaft polnischer Städte, der Oder-Neiße-Gebiete oder der Exklave Königsberg mit dem Status der Faröer oder Alands bietet sich also durchaus an.

Das wirft jedoch die Frage nach der Entscheidungsbeteiligung auf. Es ist schwer vorstellbar, daß Vertreter dieser Gebiete, die keine Staatsqualität besitzen, im Rat oder im Parlament stimmberechtigt sind. Sehr wohl vorstellbar sind aber Vertreter mit Rederecht und der Möglichkeit, ihre Vorstellungen vorzubringen. In den mit der Exklave befaßten Dienststellen der Kommission könnten ferner nationale Experten als gleichwertige EU-Beamte arbeiten. Auch in anderen gemeinschaftlichen Einrichtungen sind konsultative Vertreter oder - auf Arbeitsebene - Beamte denkbar. Von selbst versteht sich aber auch, daß hierfür erst die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden müßten.

Insbesondere für Rußland wäre diese Vorstellung verlockend. Eine Vollmitgliedschaft des Landes in der EU ist selbst langfristig nicht absehbar. Mit der Mitgliedschaft Königsbergs hingegen wären gute Beziehungen zur EU institutionalisiert. Es wäre dies ein Fuß in der Türe Europas, der dem in jeder Hinsicht daniederliegenden Königsberg Wohlstand und Fortschritt brächte. Auch die EU profitierte beträchtlich, da die aus der künftigen Enklavenlage resultierenden Probleme direkt und wirksam angegangen werden könnten. Käme es nicht zu der sich geographisch und wirtschaftlich anbietenden Aufnahme der Exklave, die dann keine Enklave mehr wäre, bliebe das Gebiet auf alle Ewigkeit - nämlich selbst dann noch, wenn Albanien, Moldau oder die Ukraine längst Mitglied der Union geworden sind - ein weißer Fleck auf der EU-Karte.

 

Jörg Horn ist Absolvent des Europa-Kollegs in Brügge und veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu europapolitischen Themen.


 
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