© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
Bollwerk gegen die Moderne
Mit der „Herr der Ringe“-Verfilmung kommt lang vermißte Magie in einen traurigen Winter
Silke Lührmann

Die Welt hat sich nicht, wie manche meinen, am 11. September 2001 verändert. Als das World Trade Center noch stand, war sie ein nicht minder gefährlicher, grausamer, gnadenloser Lebensraum, dessen Bewohner sich im Namen ihrer Götter und Abgötter gegenseitig zerfleischen. Wir konnten unser Wissen darum bloß verdrängen. Das weiterhin zu tun, erfordert in diesem Herbst und Winter ein bißchen mehr Magie als sonst. Wie gut, daß nach „Harry Potter und der Stein des Weisen“ pünktlich zu Weihnachten auch der erste Teil der sehnsüchtig erwarteten „Herr der Ringe“-Verfilmung in die Kinos kommt.

„Wir sind in das Reich der Phantasie hineingesprungen“, sagt Elijah Wood, der in der dreiteiligen 300-Millionen-Dollar-Produktion die Hauptrolle des Frodo Beutlin spielt, „und haben so getan, als wäre es Wirklichkeit.“ Seit der Erstveröffentlichung 1954/55 leben Tausende von Menschen mit J. R. R. Tolkiens Kultbüchern, als wären sie Wirklichkeit. Sie untersuchen die Sprachen der mittelirdischen Völker und lernen die Genealogien der Charaktere auswendig. Einen Monat vor Anlaufen des Films verzeichnete die offizielle Internetseite über 400 Millionen Besucher, von denen viele die kleinsten Unstimmigkeiten pedantisch bemängeln. „Sie werden mich kreuzigen“, befürchtet Wood, der nach eigenen Angaben die Trilogie nie gelesen hat.

An Magie glaubt heute fast niemand mehr, an Machbarkeit fast jeder. Zumindest das muß dieser „Herr der Ringe“ Ralph Bakshis Zeichentrickfilm von 1979 voraushaben: Er wird „wirklicher“ aussehen, nicht zuletzt dank seiner aufwendigen Maske. Was dem Philologen Tolkien allein mit Worten gelang wie keinem anderen: die perfekte Illusion einer in sich geschlossenen Parallelwelt herzustellen, hat sich New Line Cinema viel Geld und Zeit kosten lassen.

Verortet wird Tolkiens Mittelerde auf einem vergleichsweise unbefleckten Stückchen Globus, weniger von menschlichen Allmachtsphantasien gebeutelt und erschöpft als andere Kontinente: Dem Erfolg des einheimischen Regisseurs Peter Jackson und den Millionen, die Hollywood in die detailgenaue Reproduktion einer erdachten, erdichteten Landschaft investierte, verdankt Neuseelands Filmindustrie um die Hauptstadt Wellington einen unerhörten Aufschwung.

Jackson, der in „Heavenly Creatures“ (1994) und „The Frighteners“ (1996) eher die Unheimlichkeit, das Unwohl auf Zelluloid bannte, wurde hier nicht zuletzt anvertraut, ein heimeliges Auenland zu filmen, eine wahrhaft kinder, gentler nation zum Wohlfühlen: alle Hoffnungen, alle Heilsversprechen der letzten Jahrtausende durch die allzu wachsamen Augen des neuen gefiltert - ein Reich, in dem für Menschen kein Platz ist. Hobbits sind zwei bis drei Fuß groß, „kleiner noch als Zwerge“, wie es bei Tolkien heißt; ihre Darsteller wurden computergraphisch geschrumpft.

„Hobbits sind irgendwie rein“, sagt Wood. „Sie sind ins Leben verliebt, verliebt in Freunde und Freundschaft, in gutes Essen und großartige Gespräche. Ich habe das Gefühl, ich war ein bißchen so, bevor ich Frodo gespielt habe, aber jetzt bin ich, glaube ich, noch mehr so.“ Tolkien selbst bekannte, auch er sei „eigentlich ein Hobbit, nur ein größerer. Ich mag Gärten, Bäume und Bauernhöfe ohne Maschinen; ich rauche Pfeife und mag gute, einfache Kost ... . Ich gehe spät ins Bett und stehe spät auf (wenn ich kann). Ich reise nicht viel.“

John Ronald Reuel Tolkien wurde 1892 im südafrikanischen Bloemfontein als Sohn eines Bankiers geboren. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er bei Verwandten im milderen Klima Englands auf und studierte in Oxford Anglistik. An der vergeistigten Luft der Eliteuniversität gedieh Tolkien, der schon als Junge ein reges linguistisches Interesse zeigte, Gotisch lernte, Gedichte und die Grammatiken erfundener Sprachen schrieb, wie eine seltene Pflanze. 1916 heiratete er seine Jugendliebe Edith Bratt und zog als Unterleutnant in den Krieg. Aus den französischen Schützengräben heimgekehrt, die seine beiden engsten Freunde das Leben kosteten, schlug er als Professor und Familienvater zunächst in Leeds, ab 1925 in Oxford Wurzeln. Tolkien war ein begnadeter Lehrer, der die Studenten sogar für alt- und mittelenglische Literatur zu begeistern wußte, während seine Gedanken durch die Weiten der Mittelerde schweiften.

Der berühmte erste Satz des „Hobbit“ entstand, so will es die Tolkien-Folklore, aus Langeweile, als er eine Prüfung abnahm - und löste eine Flut an Worten und Bildern, Dichtungen und Gesängen, philosophischen Fragen und stilistischen Experimenten aus, die ihn zwanzig Jahre lang mit sich riß. Nachdem „Der Hobbit“ 1937 erschienen war, begann Tolkien den „Herrn der Ringe“ als Fortsetzung. Die pastorale Märchenwelt des „Hobbit“ verschmolz zunehmend mit der weniger friedlichen seines „Silmarillion“. Diesem Versuch, eine „englische Mythologie“ zu erschaffen, die sich mit dem nordischen Sagenreichtum, insbesondere dem finnischen „Kalevala“ messen konnte, galt schon seit dem Ersten Weltkrieg die Liebesmüh des gläubigen Katholiken. Die Last der Vollendung vererbte er schließlich seinem jüngsten Sohn Christopher.

Wie ein epischer Borges nahm Tolkien Glaubenssätze der Postmoderne vorweg: „Meine Geschichte sagt über nichts anderes etwas aus als nur über sich selbst.“ Er erteilte dem soziologischen Realismus eine Absage, der die britische Literatur der fünfziger und sechziger Jahre bestimmte, und schuf nebenbei jenes Genre, das heute als „Fantasy“ reißenden Absatz findet. In einem fiktionalen Universum existiert nur, was auf dem Papier steht (oder von der Kamera erfaßt wird), doch Tolkien sorgte mit akribischem Erfindungsgeist dafür, daß das seine nicht flach blieb. Alle drei Bände - „Die Gefährten“, „Die zwei Türme“, „Die Wiederkehr des Königs“ - versah er mit ausführlichen Anmerkungsapparaten und Kartenverzeichnissen, als handle es sich um eine historische Chronik.

Als Tolkien 1973 starb, hatten seine Kreaturen längst den amerikanischen College-Campus und die europäischen Märkte erobert. Bei vietnamesischen Tänzen wurden Schilde gesichtet, die das lidlose Auge des Dunklen Herrschers Sauron zierte, und Frodos Ruhm reicht bis nach Borneo. Bis heute hat sich die Hobbit-Legende weltweit insgesamt 90 Millionen Mal verkauft. Jenny Turner bezeichnet sie in der London Review of Books als Gegenstück zu James Joyce’ „Ulysses“: ein Werk nämlich, „geschrieben als Bollwerk gegen die Moderne, das von der modernen Welt angebetet“ werde.

Tolkiens deutscher Verleger Klett Cotta feiert die Filmpremiere mit der Veröffentlichung einer „zeitgemäßen“ Neuübersetzung von Wolfgang Krege. Noch gehört der „Herr der Ringe“ zwar zum bürgerlichen Kulturgut, nicht aber zu jenen Klassikern, die wie Shakespeare oder die Bibel alle paar Jahrzehnte aktualisiert werden müssen, um nicht ungelesen im Regal zu verstauben. Einer seiner Reize liegt gerade in der dem englischen Original angemessenen, bewußt altmodischen Diktion von Margaret Carroux’ Übersetzung, die weiterhin lieferbar bleiben soll.

Auch wenn die Rollen der Elfenkönigin Galadriel Abendstern und ihrer Enkelin Arwen, gespielt von Cate Blanchett und Liv Tyler, im Film „ausgebaut“ wurden: Mit allen Abenteuern und Mutproben ist die Mittelerde weniger eine Männerwelt als eine präsexuelle. Die Mode, jede Seelenverwandtschaft heranreifender Helden homoerotisch zu lesen, verkürzt Frodos Verhältnis zu seinem Getreuen Sam Gamdschie (Sean Astin) genauso wie die Kameradschaft zwischen Tom Sawyer und Huckleberry Finn.

Wer von den ewigen Beziehungskrisen im eigenen Leben wie auf der Kinoleinwand die Nase voll hat, wird auch dies als erholsam empfinden und sich gerne in den adamischen Zustand seiner ersten Tolkien-Lektüre zurückversetzen lassen. Erwachsen zu werden aber verlangt den unwiderruflichen Verlust der Unschuld, des harmlos staunenden Kinderblicks auf das Leben und die Wunder, die es bereithält. Erwachsen zu sein heißt in der Wirklichkeit des 11. September zu leben, der blutgetränkten afghanischen Wüste und den Trümmern des World Trade Center, und den Kindheitserinnerungen Besuche abzustatten wie einem lichtscheuen Tier, das durch einen Glaskäfig vor unserem gierigem Zugriff geschützt werden muß. Es bedeutet, auf ebendieser Glasscheibe heißen Atemhauch zu hinterlassen, schmierige Fingerabdrücke - und die eine oder andere Träne.

Das Überleben der Hobbits ist kaum weniger prekär als unseres, ihre moralischen Sicherheiten sind es schon. Tolkien träumte, der Wille zur Macht sei kein Naturgesetz, sondern Menschenwerk, und könne gebrochen werden: durch die Vernichtung des Rings, der Macht sowohl verleiht als auch symbolisiert und so die Begierden des Bösen weckt. Ihre Bannkraft hat den Weißen Zauberer Saruman (Christopher Lee) auf die Seite Saurons gezogen und führt Frodo an den Abgrund der Versuchung. Am Ende seiner Odyssee steht die erlösende Zerstörung des Rings, aber auch die - durchaus alttestamentarisch gemeinte - Trauer um den dafür entrichteten Preis (wid)erfahrener Erkenntnis. Der Film startet bundesweit am 19. Dezember in den Kinos.


 
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