© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Die große Flucht
Kino: „Soweit die Füße tragen“ in einer Neuverfilmung von Hardy Martins nach dem Roman von Josef Martin Bauer
Moritz Schwarz

Dawai, dawai!“, gellte es ab 1945 hunderttausenden deutschen Soldaten in den Ohren, als Kapitulanten unter Schreien und Schlägen von Rotarmisten in Viehwaggons gepfercht und abtransportiert in die unendliche Weite Sibiriens, in Landstriche, weiter entfernt, als ihre Vorstellungskraft reichte. Ein monumentaler, 158 Minuten langer Spielfilm ruft dieses vergessene Schicksal nun zurück ins Gedächtnis. Nach den Schrecken des Krieges und dem Schock der Niederlage begann für die meisten Soldaten der Wehrmacht, die bis zuletzt an der Ostfront gekämpft hatten, das dunkelste Kapitel ihres Lebens: die Jahre der sowjetischen Gefangenschaft. Dabei ist Gefangenschaft nur bei nüchterner Betrachtung das richtige Wort. „Kriegsgefangenschaft“ ist schon falsch, denn laut Genfer Konvention ist spätestens nach Beendigung der Feindseligkeiten mit der Rückführung aller Kriegsgefangenen zu beginnen. Menschlich kann es also nur einen Begriff für dieses Unrecht geben: Verschleppung.

1955 kehrten die letzten Kriegsgefangenen heim, lehren uns die Geschichtsbücher. Nur eine Fußnote - so kurz können zehn Jahre sein: eine halbe Zeile Text, erfaßt in einem Wimpernschlag. Tatsächlich aber waren es nicht nur zehn lange Jahre. Denn die Deutschen, die durch die Gulags gegangen waren, hatten mehr verloren als nur Lebenszeit. Traumatisiert kamen sie 1955 zu spät zurück ins Leben der Nation. Die Verschleppten kehrten zurück in ein Land im Wiederaufbau, das die Nachkriegsnot nur allzu gern vergessen wollte und den Krieg und seine Folgen verdrängte. Die Einheit der deutschen Schicksalgemeinschaft war zerbrochen. Das Nachkriegsdeutschland hatte kein Ohr für das Leid seiner Soldatensöhne. Dennoch war glücklich, wer überhaupt heimkehrte, denn völlig vergessen sind heute die meisten, die die Gefangenschaft gar nicht überlebten. 1,3 Millionen sind in den sowjetischen Lagern verhungert, erfroren, durch Krankheit umgekommen oder durch Arbeit vernichtet worden. - Geschichten können eben nur Heimkehrer erzählen. Die Toten schweigen.

Einer, der es überlebt hatte, erzählte 1953 zufällig - nur acht Wochen nach seiner Rückkehr nach Deutschland - seine Geschichte dem Verleger Franz Ehrenwirth. Doch irgendwann im Jahre 1950 nahm seine Geschichte einen anderen Verlauf: Der Unbekannte war entschlossen, sich nicht in Sibirien lebendig begraben zu lassen. Er floh, verschleppt ans Kap Deschnew, dem östlichsten Punkt der Sowjetunion, zu Fuß um den halben Erdball, durch den Schnee Sibiriens, nach Zentralasien, über den Kaukasus bis nach Persien - unglaubliche 14.208 Kilometer -, von wo er nach Deutschland entkommen konnte. Drei Jahre wanderte er durch die Sowjetunion, immer in der Gefahr, gefaßt und zurück ans Ende der Welt deportiert zu werden. Verleger Ehrenwirth war beeindruckt und ließ den Veteranen seine Geschichte aufschreiben. Drei Monate brauchte der dafür, doch am Ende wollte sich für diese Fülle von Stoff kein Autor finden lassen. Alle Angesprochenen schreckten zurück, bis Ehrenwirth schließlich den Schriftsteller Josef Martin Bauer gewinnen konnte, der selbst als Soldat in Rußland gewesen war und zu jenen Truppen gehörte, die 1942 den Elbrus bestiegen hatten. Bauer, bereits 1930 mit dem „Jugendpreis deutscher Erzähler“ ausgezeichnet, hatte schon einige erfolgreiche Bücher verfaßt und schuf mit diesem Roman, den er einfühlsam „So weit die Füße tragen“ nannte, einen Welterfolg, der - in 15 Sprachen übersetzt - bis heute eine Auflage von über 30 Millionen erreicht hat. Die Verfilmung fürs Fernsehen war ein Riesenerfolg und der erste Gassenfeger der jungen Bundesrepublik. Dabei war der große Erfolg des Romans nur zum Teil in der zeitlichen Übereinstimmung zwischen seinem Erscheinen 1955 und der Rückkehr der verschleppten Ostfront-Soldaten in die Heimat begründet. Offensichtlich faszinierte der alte Erzähl-stoff von der abenteuerlichen Heimkehr durch den übergeschichtlichen Modellcharakter dieser Irrfahrt.

Der Wehrmachtsoffizier Clemens Forell, den Namen wählte Bauer, gerät in sowjetische Gefangenschaft und wird deportiert. Bereits den Transport mit der Eisenbahn überleben viele seiner Kameraden nicht. In dem überfüllten Viehwaggon können sich die eingepferchten Landser nur auf einen Signalpfiff hin von einer Seite auf die andere drehen. Die Lebenden liegen tagelang auf den starrgefrorenen Toten. Zu Fuß marschieren die Soldaten schließlich von der Endstation ein Jahr lang weiter durch die tödliche Schneewüste Sibiriens - unzählige Kameraden bleiben sterbend am Wegesrand zurück - bis sie den äußersten Zipfel Asiens erreichen, Kap Deschnew auf der Halbinsel Tschuktschen. Man haust in Höhlen und arbeitet im Bergwerk. Es gibt keinen Stacheldraht und keine Wachtürme, denn es ist unmöglich, von hier zu fliehen. Die Schneewüste ist unüberwindbar, und wer es dennoch versucht, wird von Wölfen zerrissen. Das Leben der Deutschen ist nichts wert, die Tötung eines Gefangenen ist für die Russen keine Affäre. Forell ist nicht bereit, die Ausweglosigkeit dieser Situation zu akzeptieren. Tatsächlich gelingt ihm nach Jahren endlich die Flucht, doch nun erst beginnt sein ganz persönliches Drama, sein Marsch von der Bering-Straße bis nach Bayern, wo Frau und Kind leben. Mehrmals entkommt er nur knapp dem Tod, mehrmals nur knapp seinen sowjetischen Häschern. Während er im menschenleeren Sibirien beinahe zugrundegeht, drohen ihm, nachdem er endlich auf Menschen stößt, Ermordung und Verrat. Schließlich muß er selbst morden, um der Entdeckung zu entgehen. Am Ende fällt er jener Verderbtheit anheim, die in einem Menschen auf der Flucht unweigerlich aufkommt - abgesunken auf jene Stufe des Verfalls, wo den Menschen vom Tier nicht mehr viel unterscheidet. Der Erzähler bezeichnet Forell vielfach nur als „der Mann“ oder „der Mensch“, seine Geschichte wird zur Parabel über das Überleben.

1999 begann der ehemalige Stuntman Hardy Martins mit den Vorbereitungen für eine Neuverfilmung des Stoffes. Sein Produzent, Bernhard Cleve (Interview in JF 1/02) hatte sich eines Tages der Stimmung der sechsteiligen WDR-Fernsehserie von 1959 erinnert, der ersten wirklich deutschen Fernseh-Eigenproduktion, die das Publikum spektakulär in ihren Bann schlug. Martins, der 1998 mit dem ambitionierten, aber mißlungenen Actionfilm „Cascadeur - Die Jagd nach dem Bernsteinzimmer“ debütiert hatte, übernahm die Regie. Gedreht wurde mit über 11.000 Komparsen an Drehorten zwischen der russischen Eismeerküste und Usbekistan. Dabei wurde der Stoff auf Kinoformat umgeschrieben. Entstanden ist weder verfilmte Literatur noch ein dokumentarisches Werk, sondern Kino, das die Gesetze des Spielfilms berücksichtigt. Dazu gehört etwa das persönliche Duell zwischen Forell (Bernhard Bettermann) und dem Sowjetoffizier Kamenev (Anatoly Kotenyov), der Forell um den halben Erdball jagt, das die Autoren ergänzt haben, um dem Stoff die notwendige Kinodynamik zu geben.

Der Film ist weder ein Klassiker des Abenteuerfilms von Hollywood-Format noch ein Stück europäisches Kino, das die Geschichte zum Anlaß nimmt, eine Parabel zu erzählen und das Land, die Menschen und ihr Schicksal lebendig werden läßt, vielmehr ein solides Abenteuer, das den Deutschen von heute dieses persönliche Schicksal und „die Geschichte unserer Väter und Großväter“ (Verleihtext) in selten mutiger Direktheit nahebringt. Der Film startet bundesweit am 27. Dezember in den Kinos.

 

Fototext: Landser Forell (Bernhard Bettermann), Rotarmist Kamenev (Anatoly Kotenyov): Duell am Ende der Welt und Jagd um den halben Erdball


 
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