© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001


Die ganze Wahrheit - relativiert
Die Fernsehreihe „Die große Flucht“ folgt altbekannten Erklärungsmustern
Fritjof Berg

Der Autor der im ZDF ausgestrahlten Reihe „Die große Flucht“ soll stolz geäußert haben, es gelte „die Gunst der Stunde“ zu nutzen, sei es doch vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen, das „Thema Flucht und Vertreibung“ in der von ihm dargebotenen Form einem breiten Publikum zu präsentieren.

Es kann nicht am Grundgesetz gelegen haben, wenn die Darstellung von Flucht und Vertreibung in Rundfunk, Fernsehen, Presse und Filmen irgendwelchen Beschränkungen unterlegen haben sollte. „Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es dort weiter, und gesetzliche Schranken zu einer tatsachenbezogenen Darstellung des Themas „Flucht und Vertreibung“ haben zu keiner Zeit bestanden. Sogenannte Zeitzeugen zur Unterrichtung über das Geschehen hat es über Jahrzehnte hinweg millionenfach gegeben, schriftliches, jedermann zugängliches Quellenmaterial ebenfalls, in einer kaum noch übersehbaren Fülle. Es war auch beileibe nicht immer so, daß die Zeitungs- und Bildproduzenten vom Thema nahezu total weggesehen oder es in eine Political-Correctness-Form gebracht haben. Dies macht eindringlich zum Beispiel der in den 50er Jahren in allen Filmtheatern der Bundesrepublik gezeigte Spielfilm „Nacht fiel über Gotenhafen“ über die Todesfahrt der „Wilhelm Gustloff“ deutlich, von dem Filmausschnitte immer wieder in den zweiten Teil der Knopp-Serie „Der Untergang der Gustloff“ eingeblendet sind.

Der Mantel des Schweigens, der über der weltgeschichtlichen Singularität der an Deutschland und den Deutschen verübten Vertreibungsverbrechen ausgebreitet wurde, entsprach ganz einfach einer neuen „Staatsräson“ der Bundesrepublik. Das Wachhalten der Erinnerung an Verbrechen der Sieger wie die des millionenfachen Mordens, Vergewaltigens, Plünderns, Konfiszierens, Austreibens und des Gebietsraubs hätte nicht zu jener Buß- und Sühnehaltung gepaßt, wie sie seit den frühen 60er Jahren zum Grundtenor aller sich „staatstragend“ und von „gesellschaftlicher Relevanz“ dünkenden Kräfte wurde. Es hätte beispielsweise den Kniefall von Bundeskanzlers Brandt 1970 in Warschau konterkariert, ihn in einem grellen Zwielicht erscheinen lassen, eingedenk seines 1963 an die Schlesier gerichteten Grußworts „Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten“.

Paralell hierzu entstand die „Kultur des Erinnerns“, ein Erinnern an deutsche Schuld überall, aber ausgeschaltet waren die Untaten der Sieger am deutschen Volk. Ihre „Einschaltquote“ stand allenfalls im Verhältnis 1:100. Und wenn es denn schon passierte, endeten deutsche Schicksale wie das der Vertreibung stets doch in - Buchenwald, Dachau, Auschwitz. Obwohl, laut Guido Knopp, jetzt aber alles möglich sein soll, was angeblich noch vor kurzem undenkbar war, erinnert auch sein jetziges Darstellungsmuster in „Die große Flucht“ immer noch an die Echternacher Springprozession mit dem veitstanzähnlichen „drei Schritte vorwärts, zwei Schritte zurück“.

Drei Schritte vorwärts: Das waren die ungeschminkten Schilderungen Betroffener, vor allem der Mädchen und Frauen, über die millionenfach immer gleichen Stadien ihrer Erniedrigung und Schändung: das „Uhri-Uhri“-Einheimsen mit Drohung oder Anwendung roher Gewalt, das Vergewaltigen, oftmals im „Schlangestehen“, von jungen Mädchen bis zur Greisin, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit etwa der eigenen Kinder, das Verhungern, die lustvolle Ermordung von Kindern der Geschändeten, die hohe Selbstmordrate derer, die sich alledem entziehen wollten oder, in ihrer Menschenwürde zerbrochen, „danach“ aus dem Leben schieden, die Deportation mit wochenlanger Bahnfahrt durch Kälte, Durst, Hunger und Tod in die Seuchen- und Zwangslager Sibiriens. Auch derjenige, der bereits unzählige persönliche Schicksale dieser Apokalypse gelesen hatte - auch ihm blieb vor Erschütterung ein Beben in der Seele nicht erspart.

Aber: Stets folgten auf der Stelle die zwei Schrittte zurück, so als hätte der Autor der Sendung sich zu weit vorgewagt und den Anschein erweckt, das alles hätte die Deutschen als Angehörige einer scheinbar „unbefleckten“ Nation getroffen. Die deutsche „Primärverantwortung“ an allem mußte doch wieder bewußt gemacht werden, und so hörten wir vom Sprecher in immer neuen Variationen den Reim vom deutscherseits gesäten Haß, etwa duch die Politik der „verbrannten Erde“.

Zum Rechtfertigunsgmuster gehören auch heute noch die nahezu mitleidlos wirkenden Sowjetsoldaten: Die ungeheuren Verbrechen, die die Deutschen bei uns begangen haben, sollten auch sie jetzt erfahren - ob in einem Track Zivilisten waren oder nicht, interessierte uns nicht, wir mußten vorwärts - die Exzesse konnte man nicht verurteilen, wir haben Schlimmeres gesehen - man habe die vergewaltigten russischen Mädchen gesehen - die Deutschen haben Böses getan, was sollten wir noch für sie empfinden.

Eine schier unfaßbare Relativierung der Massenvergewaltigungen nahm der bekannte Buchautor Graf Krockow vor, obwohl dessen eigene Mutte und Schwester Opfer dieses Verbrechens geworden waren: Es seien doch junge Männer gewesen, die vorher kämpfend durch ein weitgegend zerstörtes Rußland gegangen seien. Und so wie im vorliegenden Falle, sei es überall in der Geschichte zugegangen - Frauen seien immer die erste Beute der Sieger gewesen.

Soweit deutsche Soldaten dieses Verbrechen begangen haben, ist es bei Bekanntwerden von der Wehrmachtsgrichtsbarkeit strengstens geahndet worden, auch und gerade auf dem östlichen Kriegsschauplatz. Dies geschah allein im Interesse der Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin und des Ansehens der Wehrmacht. Gewiß sind beim Rückzug der Wehrmacht Vorräte, Anlagen und Quartiere zerstört worden, die dem Gegner „ein Dach über dem Kopf“ hätten bieten können. Gleichwohl handelt es sich bei der „verbrannten Erde“ um ein janusköpfiges Geschehen, das absichtsvoll allein der deutschen Seite angelastet werden soll. Bereits 1941 erließ Stalin den sogenannten „Fackelmännerbefehl“, demzufolge alle Ortschaften vor dem Einrücken deutscher Truppen niederzubrennen waren, und zwar von Kommandos in deutschen Uniformen. Wurde also wirklich „Gleiches mit Gleichem“ vergolten? Warum mußten dann erst noch abertausende Politruks, von denen Ilja Ehrenburg nur der bekannteste und bei den Sowjetsoldaten bliebteste war, pausenlos in Frontzeitungen, Flugblättern, Appellen die niedrigsten Instinkte aufstacheln? „Sowjetsoldat, mach es so, daß es den Deutschen ewig im Gedächtnis bleibt!“, wude den Rotarmisten vor dem Überschreiten der deutschen Grenze in allen Einheiten eingebleut. Danach haben sie denn auch gehandelt!

 

Fototext: Die Rote Armee in Mühlhausen / Ostpreußen 1945: Deutsche Staatsräson ließ ein Erinnern nicht zu


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