© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   02/02 04. Januar 2002


Das Jahr der Konflikte
Wir stehen vor großen nationalen und internationalen Herausforderungen
Alexander Griesbach

Es greift sicher nicht zu weit, wenn man das Jahr 2002 als Jahr der Weichenstellungen bezeichnet. Dies gilt sowohl für die nationale als auch für die internationale Perspektive. Am Ende des Jahres 2001 deutete manches darauf hin, daß die USA sich anschicken, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus weiter auszudehnen. Nachdem in Afghanistan die Verhältnisse halbwegs im Sinne der USA bereinigt worden sind, steht nun augenscheinlich Somalia auf der Liste. Als weitere „Schurkenstaaten“, in denen sich die Kader der Organisation al-Quaida des mutmaßlichen Terroristenführers Osama bin Laden aufhalten sollen, werden immer wieder auch der Irak, der Sudan und der Jemen genannt. Howard Safir, früher Polizeichef von New York und inzwischen stellvertretender Direktor der US-Marshalls, meinte mit Blick auf Bin Laden: „Sein Vorteil ist, daß er sich in einer Art geschlossenen Gesellschaft bewegt, in die Außenstehende kaum eindringen können.“ Wie dem auch sei: Die USA haben keinen Zweifel daran gelassen, daß jedem Staat, der Bin Laden Aufenthalt gewährt, das Schicksal Afghanistans droht.

Dies gilt auch für den schwelenden Konflikt zwischen Pakistan und Indien. Hier zeichnet sich eine ernste Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien ab. Der indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee hat Pakistan unverblümt mit Krieg gedroht. In einer Ansprache vor dem Parlament sagte Vajpayee, Pakistan wisse, daß Terroristen von seinem Gebiet aus operierten. Die Spannungen zwischen Indien und Pakistan hatten sich nach dem Terrorüberfall auf das indische Parlament im Dezember erheblich verschärft. Indien macht Pakistan für die Attacke mit verantwortlich, weil zwei extremistische Muslim-Organisationen, die hinter dem Angriff stecken sollen, in Pakistan ihre Hauptquartiere haben. Indien wirft Pakistan vor, den Kampf gewaltbereiter Muslim-Milizen zu unterstützen, die für den Anschluß des indischen Teils von Kaschmir an Pakistan kämpfen. Pakistan bezeichnet diese Milizen als „Freiheitskämpfer“, Indien spricht von „Terroristen“. Einiges deutet also darauf hin, daß erneut ein Krieg um den Kaschmir ausbrechen könnte.

In die entscheidende Phase dürfte 2002 auch der Konflikt mit Palästinensern und Israelis gehen. Die für die weitere Zukunft der Region entscheidende Frage lautet, ob Palästinenserführer Arafat, den Israels Ministerpräsident Scharon systematisch zu demontieren sucht, das Jahr 2002 politisch überlebt. Falls nein, muß sich der Nahe Osten auf eine weitere Eskalation der Gewalt einstellen.

Auch innenpolitisch stehen entscheidende Weichenstellungen bevor. Dabei kommt der Bundestagswahl am 22. September eine herausragende Bedeutung zu. Von besonderem Gewicht wird die Entscheidung der K-Frage in der Union sein. Falls diese tatsächlich die blasse Parteivorsitzende Angela Merkel auf den Schild heben sollte, dürfte kaum damit zu rechnen sein, daß die derzeitige rot-grüne Regierung abgelöst wird. Sollte allerdings der bayerische Ministerpräsident Stoiber für die Union ins Rennen gehen, könnte es eng für die rot-grüne Regierung werden.

Zündstoff für den Wahlkampf gibt es genug: angefangen bei den desolaten Staatsfinanzen über das ramponierte Bildungssystem und die Frage der Zuwanderung, bis hin zur Inneren Sicherheit oder den Bundeswehreinsätzen im Ausland. Viele dieser Probleme hat freilich die Union aufgrund ihrer langen Regierungszeit mit zu verantworten. Eine Reihe von Unionspolitikern, die in dieser Zeit politische Ämter besetzten, stehen auch diesmal wieder mit in der ersten Reihe. Es ist deshalb kaum damit zu rechnen, daß unter einer unionsgeführten Regierung eine Wende zum Besseren eintritt.

Ob hier die Partei des Hamburger Amtsrichters Ronald Barnabas Schill Abhilfe schaffen kann, ist offen. Wahrscheinlich wird es seiner Partei Rechtsstaatliche Offensive schon nicht gelingen, bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt das anvisierte Ziel von sage und schreibe 30 Prozent zu erreichen, geschweige denn, den Ministerpräsidenten zu stellen. Dies hat Schill selbst als Voraussetzung dafür bezeichnet, daß die Partei überhaupt zur Bundestagswahl antritt.

Angesicht der besorgniserregenden Verfassung, in der sich unser Gemeinwesen befindet, muß die Frage gestellt werden dürfen, ob es überhaupt noch eine Rolle spielt, welche der im Reichstag vertretenen Parteien gerade die Regierungsgewalt innehaben. Haben nicht alle diese Parteien ihre Unfähigkeit bei der Bewältigung der vielen ungelösten Fragen, die Deutschlands Zukunft verdüstern, hinreichend dokumentiert? Schlaglichtartig hat die OECD-Schulvergleichsstudie Pisa deutlich gemacht, wie es um die Zukunft des „Wirtschaftsstandortes Deutschland“ wirklich bestellt ist. Über kurz oder lang wird das mangelhafte Bildungsniveau deutscher Schüler spürbare Konsequenzen im wirtschaftlichen Wettbewerb zeitigen, gehört doch die Bildung mit zu den wichtigsten Ressourcen, die Deutschland im internationalen Wettbewerb in die Wagschale zu werfen hat. Jetzt rächt sich der Mißbrauch der Schulen als Integrationsinstrument. Viele ausländische Schüler sprechen bei der Einschulung kein einziges deutsches Wort. Entsprechend ist es um das „Niveau“ auf vielen deutschen Schulen bestellt.

Bei den bundesdeutschen Politikern scheint sich nicht herumgesprochen zu haben, daß zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Bildung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. In der Bildungsökonomie wird beispielsweise die These vertreten, daß das Beschäftigungssystem über den Markt auf das Bildungssystem fächerspezifisch auf die Zahl der Studierenden einwirkt. Umgekehrt gehen aber auch vom Hochschulwesen über die Bildung von Humankapital positive Wachstums- und Innovationseffekte auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Festzustellen ist, daß nicht nur das Ausbildungsniveau in Deutschland immer weiter sinkt, sondern daß auch die besten Kräfte sukzessive ins Ausland abwandern. Bis heute ist es nicht gelungen, den gewaltigen „brain drain“ in die USA und in andere Staaten spürbar einzudämmen. Dieser „brain drain“ kommt einem gravierenden gesamtgesellschaftlichen Schaden gleich. Denn für eine Gesellschaft (bzw. die steuerzahlende Allgemeinheit) ist ein Hochschulstudium zunächst einmal ein Produktionsumweg, der sich erst dann lohnt, wenn dadurch eine höhere wertschaffende Potenz im Wirtschaftsprozeß erreicht wird. Bildung als Konsumgut verschlingt zunächst einmal Ressourcen. Dieser Ressourcenverzehr wird erst im gesellschaftlichen Produktionsprozeß kompensiert.

Wenn nicht alles täuscht, sind diejenigen, die für dieses Desaster verantwortlich zeichnen, nach dem ersten aufgeregten Palaver schon wieder dabei, zur Tagesordnung überzugehen. Die Berliner Politikkarawane zieht weiter. Es fragt sich bloß, wohin. 


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