© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Auf jeder Ebene zuständig
Minderheiten: Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien - ein Vorbild für die Deutschen in Polen?
Adrian Sobek

Spricht man in der Bundesrepublik Deutschland von deutschen Min-derheiten bzw. Volksgruppen im Ausland, so fallen einem meistens Länder wie Rußland, Polen oder Rumänien ein und nur selten werden Dänemark oder Belgien erwähnt. Wenig bekannt ist, daß es in Belgien, das mit seiner Hauptstadt Brüssel eine wichtige Rolle im heutigen Europa spielt, eine deutsche Sprachgemeinschaft gibt. Neben der flämischen(59,4 Prozent, niederländischsprachig) und wallonischen (39,9 Prozent, französischsprachig) Volksgruppe existiert eine kleine deutsche Minderheit die 71.000 Personen umfaßt (etwa 0,7 Prozent Bevölkerung). Zum Vergleich: Die deutsche Volksgruppe in Polen, die hauptsächlich in Oberschlesien lebt, zählt ca. 500.000 Köpfe.

Das Territorium der deutschen Minderheit, oder wie es offiziell heißt, der „Deutschsprachigen Gemeinschaft“, umfaßt 854 Quadratkilometer, es liegt westlich von Aachen und besteht aus zwei unterschiedlichen Teilgebieten. Die Nord-Süd-Ausdehnung beträgt 120 Kilometer, die Ost-West 25 Kilometer. Der nördliche Teil, das Gebiet um Eupen, Lontzen, und Raeren ist kleiner, aber dichter besiedelt als der südliche Teil, der die belgische Eifel mit den Orten Amel, Büllingen, Bütgenbach, Burg-Reuland und St. Vith umfaßt.

Zur Geschichte: Die Gebiete wurden beim Wiener Kongreß im Jahre 1815 dem preußischen Rheinland zugeordnet und bildeten dann die Kreise Eupen und Malmedy. Eine Ausnahme stellte das Gebiet Neutral Moresnet (heute: Kelmis) dar, das aufgrund der dort vorkommenden reichen Zinkvorkommen umstritten war und deshalb unter preußisch-belgische Doppelverwaltung gestellt wurde.

Der Versailler Vertrag im Jahre 1919 spielte ebenso wie im Osten des Deutschen Reiches hier eine entscheidende Rolle. Wie in Teilen Oberschlesiens sowie Ost- und Westpreußens gab es eine umstrittene Volksabstimmung, nach der die Kreise Eupen und Malmedy an Belgien fielen. Nach 1939 bzw. 1940 wurden die damals abgetrennten Gebiete an das Deutsch Reich zurückgegliedert um nach 1945 wieder an das andere Land zu fallen. In beiden Weltkriegen kämpften Einwohner der abgetretenen Gebiete auf deutscher Seite und entrichteten als deutsche Soldaten einen hohen Blutzoll. In den Jahren 1925 und 1926 fanden belgisch-deutsche Verhandlungen statt, die eine Rückgabe Eupen-Malmedys an Deutschland gegen die Zahlung von 200 Millionen Goldmark vorsahen. Die Verhandlungen scheiterten aber am Widerspruch Frankreichs. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien im Mai 1940 wurden diese Kreise dann doch wieder an das Deutsche Reich angegliedert, 1945 fiel dieses Gebiet wieder ans Königreich Belgien und viele Deutschen wurden vertrieben.

In den belgisch-deutschen Septemberverträgen im Jahre 1956 wurde eine Grenzberichtigung, ein Kulturabkommen, sowie sprachlich-kulturelle und institutionelle Eigenständigkeit für die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien vereinbart. Anfang der sechziger Jahre wurde Belgien in vier Sprachgebiete (flämisch, französisch, deutsch und Sondergebiet Brüssel) aufgeteilt, der im Jahre 1970 die offizielle Gründung der deutschen Kulturgemeinschaft folgte.

Die „Deutschsprachige Gemeinschaft“ ist durch Artikel in der belgischen Verfassung offiziell anerkannt und der Rechtsstatus entspricht dem der Flämischen und Wallonischen Gemeinschaft. Amts-, Schul- und Gerichtssprache ist Deutsch. Im Rahmen der politischen Autonomie ist die „Deutschsprachige Gemeinschaft“ für das Unterrichts- und Ausbildungswesen und die kulturellen sowie personenbezogenen Angelegenheiten auf allen Ebenen zuständig.

Der Haushalt 2001 betrug fünf Milliarden belgische Franc, etwa 250 Millionen Mark. Die Zuständigkeit umfaßt u.a. die Lehrergehälter, die Unterrichtsinhalte und die Schulbauten. Der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft, die politische Vertretung, umfaßt 25 Abgeordnete und ist gesetzgebende Gewalt. Die verabschiedeten Dekrete haben im deutschen Sprachgebiet Gesetzeskraft und können weder vom Bundesparlament noch von anderen Räten außer Kraft gesetzt werden.

Die Gemeinschaftsregierung besteht aus drei vom Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaften gewählten Ministern, der eine eigene Verwaltung zur Verfügung steht. Die früher üblichen zweisprachigen Ortsbezeichnungen wurden seit der Mitte der achtziger Jahre durch rein deutsche ersetzt. Beachtliches leistet die kleine Gemeinschaft auf kulturellem Gebiet; 70 Orchester und Spielmannszüge, 70 Schulen und zwei pädagogische Hochschulen, 90 Gesangsvereine und Chöre sowie 30 Dorftheater sorgen für ein blühendes Kulturleben. Der belgische Rundfunk sendet zwei Radio- und ein Fernsehprogramm rund um die Uhr.

Diese Politik der Freizügigkeit für die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften ist vorbildlich in Europa. Man darf gespannt sein, wann und in welcher Form ähnliche Rechte auch für die Deutschen in Polen gelten werden, tut sich die polnische Regierung doch schon schwer, zweisprachige Ortsbezeichnungen in dem mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiet zuzulassen. Trotz vieler Parallelen gibt es auch einen Unterschied: Im Gegensatz zu den Deutschen in Polen, die zum größten Teil neben der polnischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sind die Angehörigen der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgier. Wenn Polen demnächst wie Belgien EU-Mitglied ist, ergeben sich neue Perspektiven.


 
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