© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/02 04. Januar 2002

 
Vom Schrecken zum Objekt des Mitleids
Das sowjetische Militär und ihre deutsche Besatzungszone
Rolf Helfert

"Die Russen kommen!“, hieß es 1945 in Ostdeutschland, als sowjetische Truppen einrückten. Der Nachhall dieses Schreckensrufes sollte erst 1989/90 wieder verklingen. Die Er­kenntnis, daß die DDR ihre kurzlebige Existenz sowjetischen Bajonetten verdankte, ist ge­wiß nicht neu. Dennoch fehlte bisher eine Studie über das zwischen Elbe und Oder statio­nierte sowjetische Militär. Stefan Wolle und Ilko-Sascha Kowalczuk, zwei in der DDR auf­gewachsene Historiker, schrieben das Begleitbuch zu einer Fernsehserie, die im Dezember in der ARD gezeigt wurde. Die Autoren schildern detailliert Struktur, Erschei­nungsformen und Wandel der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ (GSSD).

Jene Greueltaten, welche die Rote Armee bei der Eroberung deutscher Gebiete beging, beispielsweise Hunderttausende von Vergewaltigungen, prägten tief das Bewußtsein fast aller Deutschen. Bis zum Ende der DDR vertraten die meisten sowjetischen Soldaten die Devise: „Wir Sieger- Ihr Besiegte“. Propagandistische Versuche der SED, das Bild der Sowjets positiv zu stilisieren, mißlangen völlig. Die Angst vor den Russen blieb, mochten diese auch Mitleid erregen, weil sie äußer­lich wie Sträflinge wirkten. Obwohl sie stets einen Fremdkörper bildeten und die eigentliche Macht ausgeübt hatten, gab es während des Abzuges sowjetischer Truppen (1990 -1994) deutscherseits keine Haßgefühle.

Nach Kriegsende organisierten Reparationsbrigaden der Roten Armee gigantische Demontagen. Allein 1945 wurden 400.000 Waggons voller Güter und Produktionsanlagen fortge­schafft; das meiste davon verrottete. Etwa 30% der mitteldeutschen Industriekapazität ging verloren. Gleich nach Kriegsende begann, initiiert von der Sowjetischen Militäradministra­tion, ein Prozeß der Sowjetisierung aller Lebensbereiche.

Sowjetische Offiziere, meist Stadtkommandanten, leiteten zunächst die deutsche Verwal­tung. Militärtribunale der Roten Armee verurteilten bis 1955 etwa 50.000 politisch mißlie­bige Personen zum Tode oder ließen sie nach Sibirien deportieren. Auch ehemalige KZ`s wurden bis 1950 als Straflager genutzt. Besonders negativ und ineffizient gestaltete sich die Sowjetisierung der ostdeutschen Wirtschaft. In nur vier Jahren oktroyierten Besatzungsoffi­ziere das russische Modell. Ende der vierziger Jahre kapselten sich die Sowjettruppen hermetisch ab, indem sie vormalige Wehrmachtskasernen oder zivile Wohnblöcke requirierten. „Russenviertel“ wie das märkische Wünsdorf, Sitz des sowjetischen Oberkommandos, wurden völlig isoliert.

Anschaulich legen die Autoren den furchtbaren Alltag sowjetischer Soldaten dar. Totale Ka­sernierung in Massenunterkünften, Ausgehverbote und der Mangel jeglicher Freizeit schufen ein Klima des „wahnwitzigen Kollektivismus“. Tagtäglich gab es Schläge und Fußtritte von Offizieren und ältereren Rekruten. Miserabel versorgte man die Soldaten mit Nahrung und medizinischer Hilfe. „Brei, nur Brei, morgens, mittags, abends, immer Brei“, berichteten de­sertierte Rotarmisten. „Der Blinddarm wurde mir 1986 ohne jede Betäubung her­ausgeschnitten“, erzählte ein anderer. Desertionen, denen fast immer die Todesstrafe folgte, und Suizide kamen häufig vor. Zwischen 1976 und 1989 registrierten DDR-Behörden etwa 27.000 Delikte aller Art, die Sowjetsoldaten begangen hatten.

Etwa 400.000 Mann zählte die gut trainierte GSSD; stets besaß sie modernste Waffen und war extrem offensiv ausgerichtet. Zahlreiche Panzer, Brückenbauverbände, Luftlande­einheiten und taktische Kernwaffen verliehen der Elitetruppe enorme Angriffskraft. Wollten die Sowjets bei günstiger Gelegenheit losschlagen oder Westeuropa irgendwann politisch erpressen? Da die Verfasser nur deutsche, aber keine russischen Archive benutzten, bleiben diese Fragen vorerst unbeantwortet. Letztlich ist es wohl Gorbatschow zu verdanken, daß die „Westgruppe“ im Herbst 1989 nicht gegen Demonstranten vorging. Denn auf Befehl hätte sie eben das getan, wie Aussagen einstiger Offiziere belegen. Wolle und Kowalczuk beenden das Buch mit Informationen über ökologische Altlasten, frühere Liegenschaften und Kriegsdenkmäler jener Armee, die einst die DDR begründet hatte.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Stefan Wolle: Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR. Links Verlag, Berlin 2001, 256 Seiten, 15,50 Euro


 
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