© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/02 11. Januar 2002

 
„Die SPD wird sich noch wundern“
Walter Sickert, Alt-Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, über die rot-rote Koalition und seinen Austritt aus der SPD
Moritz Schwarz

Herr Sickert, Sie waren 22 Jahre für die SPD Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, davon acht Jahre Parlamentspräsident. Nun sind Sie aus Protest gegen die Koalition mit der PDS aus Ihrer Partei ausgetreten.

Sickert: Es fiel mir beileibe nicht leicht, nach 54 Jahren nun mein Parteibuch zurückzugeben, aber wenn man sich so viele Jahre gerade für die sozialdemokratischen Ideale eingesetzt hat, wenn man sein halbes Leben darauf verwandt hat, für Berlins Freiheit und gegen den Kommunismus zu kämpfen, und nun meine Partei mit der für den Kommunismus verantwortlichen Partei koaliert, dann zwingt sie mich ja geradezu zum Austritt. Wer mit Kommunisten gemeinsame Sache macht, der darf eigentlich damit nicht durchkommen! Ein alter Parteigenosse sagte gestern zu mir, er wolle Sozialdemokrat bleiben und deshalb verlasse er die Partei.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Austritt?

Sickert: Durchweg positiv, seit Tagen klingelt bei mir ununterbrochen das Telefon, Menschen, übrigens nach eigenem Bekunden überwiegend Anhänger der SPD, beglückwünschen mich und danken mir, manchmal sind sie sogar selbst gestandene Sozialdemokraten, die diesen Schritt bereits hinter sich haben oder nun meinem Beispiel folgen wollen.

Wird es tatsächlich eine für die SPD relevante Zahl von Austritten geben, oder bleibt es bei vereinzelten Aktionen?

Sickert: Das kann ich nicht sagen, immerhin hat die SPD in Berlin etwa 20.000 Mitglieder.

Der Kurt-Schumacher-Kreis hat schon vor einem halben Jahr vor dieser Entwicklung gewarnt.

Sickert: Zwar kenne ich den Kurt-Schumacher-Kreis der SPD, hatte aber nie näheren Kontakt mit ihm. Der hatte mit Annemarie Renger, Egon Franke und anderen sein Standbein überwiegend in Westdeutschland.

Sie haben im Landesparteivorstand eng mit Willy Brandt zusammengearbeitet.

Sickert: Ich kannte seine Gedanken: Willy Brandt hat immer nur mit der SED verhandelt, um Verbesserungen für die Deutschen in der DDR zu erreichen, niemals hätte er so etwas getan, um sich Regierungsmacht zu sichern. Er würde im Grabe rotieren, wenn er wüßte, was aus seiner Partei heute geworden ist.

Der konservative Helmut Schmidt, der nationale Kurt Schumacher, der gestrenge Herbert Wehner, der patriotische Willy Brandt. Allesamt standhafte Antikommunisten. Hat die SPD ihr großes Erbe völlig vergessen?

Sickert: Es hat den Anschein, zumindest hier in Berlin.

Wie konnte der Begriff des Antikommunismus, der doch eigentlich Bestandteil des Antitotalitarismus ist, so verkommen und heute mindestens als völlig spießig, wenn nicht gar als borniert oder sogar „rechtsradikal“ gelten?

Sickert: Kurt Schumacher, für mich der hervorragendste Sozialdemokrat überhaupt, hat die Kommunisten treffend als „rotlackierte Faschisten“ bezeichnet. Wir haben uns damals nach dem Krieg gegen die Kommunisten und ihre brutale Diktatur zur Wehr setzten müssen. Aber die jungen Leute von heute haben das nicht miterlebt, fragen Sie mal, wer von ihnen noch Kurt Schumacher kennt. Ich komme aus einer alten sozialdemokratischen Familie und war in meiner Jugend vor dem Zweiten Weltkrieg selbst im Jungspartakusbund, einer radikalen kommunistischen Gruppe. Nach 1933 saß ich deswegen auch einige Monate im KZ. Wir haben damals die Diktatur des Proletariats gefordert. Hätten wir auch nur den geringsten Schimmer davon gehabt, was eine Diktatur eigentlich ist, hätten wir das schön bleiben lassen. Wir hatten keine Ahnung von den Schrecken des Kommunismus, und die heutige Jugend hat davon auch keine Ahnung. Natürlich, es ist doch nichts Schlimmes, Antikommunist zu sein.

Bezüglich der Epoche des Nationalsozialismus wird immer wieder von der Jugend verlangt, gefälligst ein entsprechendes historisches Gedächtnis zu haben, warum akzeptieren sie das „Vergessen“ im Falle der kommunistischen Untaten?

Sickert: Das ist eine schöne Forderung, aber leider nicht die Realität. Tatsache ist, daß sich die jungen Leute heute viel weniger mit Politik befassen. Früher ist man in eine Partei eingetreten, um mitzuhelfen, die Probleme der Menschen zu bewältigen. Heute tritt man in eine Partei ein, um etwas zu werden. Damit kann man in der Tat keine Demokratie aufbauen, aber so ist das eben. Ihre Forderung mag ja moralisch gerechtfertigt sein, ist aber schlicht irreal.

Glauben Sie, daß Sie überhaupt ernst genommen werden, denn trotz des enormen Medienechos in Berlin auf Ihren Schritt, spricht der dortige stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Andreas Matthae lediglich von einem „Generationenproblem“.

Sickert: Wer die Unterdrückung und Diktatur der Kommunisten nicht miterlebt hat, der redet natürlich so.

Sie akzeptieren die Deutung als Generationenkonflikt?

Sickert: Wie gesagt, die jungen Leute wissen heute vom Kampf der SPD und der Gewerkschaften gegen den Kommunismus nichts mehr. Schauen Sie sich doch nur an, wie tief das Niveau der politischen Bildung heute gesunken ist: Bei einer Umfrage an deutschen Hochschulen konnten jüngst 60 Prozent der Studenten nicht angeben, wer Konrad Adenauer war. Für diese jungen Leute ist die PDS eine normale demokratische Partei wie jede andere. Natürlich suggeriert durch Vorstandsmitglieder der Berliner SPD.

Wenn es sich tatsächlich um ein Generationenproblem handeln würde, wäre es eben kein moralisches mehr. Damit wäre der moralische Vorwurf, den Ihr Parteiaustritt bedeutet, abgewiesen.

Sickert: Sicher, das war ja auch das Ziel dieser Äußerung des Landesvorstandes. Vor mir sind doch schon viele andere aus Protest ausgetreten, das wird mit einer schnodderigen Bemerkung quittiert und ansonsten verschwiegen. Was ist schon ein Austritt? Zu glauben, mein Protest würde zum Nachdenken anregen - so naiv bin ich natürlich nicht.

Man gewinnt gar den Eindruck, der Vorstand sieht die Austritte statt mit Unbehagen mit einer gewissen Erleichterung.

Sickert: Das ist schon möglich, so mancher, der Bedauern vorgibt, freut sich wohl darüber, daß nun endlich das Gemeckere all derer aufhört, die ständig dagegen waren, die Partei auf den neuen Kurs zu bringen.

Klaus Wowereit und die Berliner Parteiführung argumentieren ebenso wie Gregor Gysi und die PDS, die Koalition helfe die Spaltung der Hauptstadt zu überwinden.

Sickert: Vor drei Wochen, als man noch über eine Ampel-Koalition verhandelte, war diese Spaltung noch kein Argument. Jetzt plötzlich bestimmt sie die Position der SPD. Dem Parteivorstand ist eben jedes Argument recht und leider keine Ausrede zu dämlich.

Gerne wird auch angeführt, die PDS sei keine kommunistische Partei mehr.

Sickert: Die PDS besteht noch zu etwa achtzig Prozent aus den alten Mitgliedern, die schon in der SED mit von der Partie waren. Das mag sich ja in zehn oder zwanzig Jahren geändert haben, aber heute, gut zehn Jahre nach der Wende, ist es noch nicht soweit, und darüber kann man nicht hinwegsehen. Wir hadern heute noch - Sie haben es vorhin ganz richtig angesprochen - mit den Nazis, und ich bekämpfe alles, was auch nur annähernd in die Richtung Neonazi geht, man kann also zehn Jahre nach dem Ende einer Diktatur nicht einfach so tun, als sei da nichts gewesen.

Sind es nur die alten Mitglieder, oder warnen Sie auch vor einer immer noch bestehenden kommunistischen Grundierung in der Ideologie der PDS?

Sickert: Ich glaube, daß die jungen Leute in der PDS auch einmal den Wandel zur demokratischen Partei bewerkstelligen können, aber im Moment ist das eben noch nicht geschafft.

Sie warnen, die SPD werde sich noch einmal wundern. Warum?

Sickert: Den Wählern der SPD wird doch durch die Berliner rot-rote Koalition klargemacht, daß die PDS eine normale Partei ist, das nächste Mal können sie also mit gutem Gewissen ihr Kreuzchen auch bei den Postkommunisten machen. Durch die Etablierung ihres Koalitionspartners bewirkt die SPD ebenfalls die Etablierung ihrer Konkurrenz.

Erwarten Sie Konsequenzen für die Bundestagswahl im Herbst?

Sickert: Es war nicht die PDS, die zur SPD gekommen ist, um eine Koalition anzubieten, sondern ihr wurde von Seiten der SPD ein Bündnis offeriert. Das ist quasi der demokratische Ritterschlag. Im Westen ist die Position der SPD gegenüber der PDS ja noch halbwegs gefestigt, aber in den neuen Ländern steht die SPD unter großem Druck durch die PDS. Da kann man sich eine Enttabuisierung der PDS eigentlich gar nicht erlauben. Und die alten Sozialdemokraten werden der SPD diese Anbiederung übelnehmen und nicht so schnell verzeihen.

Sie sprechen von einem Schaden für die Demokratie. Was meinen Sie genau?

Sickert: Parteien waren früher politisch-willensbildende Institutionen. Mein früherer Ortsverein Britz/ Berlin-Neukölln hatte zu meiner Zeit noch sechshundert Mitglieder, heute sind es nicht einmal mehr zehn Prozent davon. Und von denen kommt kaum noch einer tatsächlich regelmäßig zu Parteiveranstaltungen. Bei Kreisdelegiertenwahlversammlungen sind gerade mal noch soviele Leute da, wie nötig sind, um die Wahlen überhaupt abhalten zu können. Das heißt, die Funktionäre wählen sich quasi nur noch gegenseitig selbst. Damit ist das eigentliche Parteileben weitgehend zum Erliegen gekommen; „unten“ wird nur noch so viel gemacht, wie notwendig ist, um die Partei am Funktionieren zu halten. Das ist natürlich nicht nur in der SPD so, aber mit solchen Manövern, wie der Koalition in Berlin, werden auch noch die letzten - meist schon etwas älteren - engagierten Parteimitglieder parteimüde.

Lebendigkeit und die Durchwirkung der SPD mit der Arbeiterschaft sind also verloren gegangen, die Funktionäre sind unter sich.

Sickert: Ja, und davon sind die meisten auch noch im öffentlichen Dienst beschäftigt.

Wenn nun die alten Sozialdemokraten austreten, dann haben aber doch ihre innerparteilichen Gegner gewonnen. Müßte an die Stelle des innerparteilichen Engagements nicht ein neues Partei-Engagement, zumindest aber ein außerparteiliches Engagement treten?

Sickert: Diese Leute treten in der Tat sozusagen in den politischen Ruhestand, das ist natürlich ein Problem. Allerdings ist der Wirkungskreis einiger dieser Leute noch sehr groß. Auch das Diskutieren im Kreis der ehemaligen Mitglieder des Abgeordnetenhauses, im Freundeskreis, etc. das alles geht ja weiter.

Politische Relevanz hat all das aber wohl nicht. In Hamburg traten enttäuschte alte SPD-Kämpen im vergangenen Jahr in die Schill-Partei ein, mit der Begründung, in dieser Partei sei bürgernahes Engagement wieder möglich. Wäre das auch eine Option für enttäuschte Sozialdemokraten in Berlin?

Sickert: Ich kann mir nicht vorstellen, einer Partei wie der Schill-Partei, die nur auf der Basis von Unzufriedenheit statt auf der Grundlage positiven politischen Wollens funktioniert, beizutreten. Im übrigen glaube ich, daß Schill letztendlich genauso schnell wieder verschwinden wird, wie er aufgetaucht ist.

Die CDU entdeckt zwar auch nur in den sechs Wochen vor einer Wahl ihre demokratische Verpflichtung zum Antikommunismus, aber immerhin würden Sie dort eine Plattform finden.

Sickert: Menschlich hatten wir, bei allen politischen Differenzen, zu unseren CDU-Kollegen im Abgeordnetenhaus immer ein gutes Verhältnis. Aber im Moment verspüre ich kein Bedürfnis, irgendeiner anderen Partei Berlins beizutreten.

Haben Sie die Herren Strieder, Momper und Wowereit einmal persönlich auf ihr Verhalten angesprochen?

Sickert: Nein, denn ich kenne ihre Ansichten und es hätte nichts genutzt. Im übrigen wäre es doch ein Leichtes gewesen, die Mitglieder, also auch uns Alte, zu einer rot-roten Koalition zu befragen. Aber wahrscheinlich war das gar nicht gewollt, denn am Ende wäre noch ein „Nein“ dabei herausgekommen.

Machtpolitisches Kalkül überwiegt also alle moralischen Bedenken?

Sickert: So ist es. Etliche meiner vielen Anrufer behaupten, daß fünf Jahre in der Regierung für die Herren Strieder und Wowereit auch fünf Jahre Senatoren-Gehalt bedeuten. Was soll ich dem entgegenhalten?

Erst die Tolerierung in Magdeburg, dann die Koalition in Schwerin, jetzt der Durchmarsch in der Hauptstadt. Kommt Ihr Austritt nicht zu spät, war das nicht abzusehen?

Sickert: Das frage ich mich heute auch, aber ich habe ganz ehrlich nicht geglaubt, daß es in Berlin jemals soweit kommen könnte. Ich habe geglaubt, das politische Bewußtsein in Berlin wäre ausgeprägter.

Wird sich diese „Dominoreihe“ nicht folgerichtig bis in den Bund hinein fortsetzen?

Sickert: Das fürchte ich allerdings inzwischen auch.

 

Walter Sickert: geboren 1919 in Hamburg. Der gelernte Schlosser und Maschinenbauer trat bereits mit neun Jahren dem Jungspartakusbund bei, wofür er nach 1933 einige Monate im KZ saß. 1938 bis 1945 diente er in der Kriegsmarine, 1946 kehrte er aus britischer Gefangenschaft zurück. Im selben Jahr trat er in Berlin zunächst dem kommunistischen FDGB (Freier deutscher Gewerkschaftsbund), später dem DGB bei, 1948 der SPD. Von 1960 bis 1982 war er Vorsitzender des DGB in Berlin, von 1963 bis 1985 für seine Partei Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, von 1967 bis 1975 als dessen Präsident. Am 2. Januar verließ er aus Protest gegen die Koali-tion der SPD mit den Postkommunisten in Berlin seine Partei.

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