© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/02 11. Januar 2002

 
Veto gegen Pannenreaktor
Österreich: FPÖ-Volksbegehren gegen das Atomkraftwerk Temelín / Krise der schwarz-blauen Wiener Koalition droht
Frank Philip

Ein von der FPÖ initiiertes Volksbegehren gegen das umstrittene tschechische Atomkraftwerk Temelín wird zur Belastungsprobe der schwarz-blauen Koalition. Vom 14. bis zum 21. Januar läuft die Unterschriftenaktion, die ein österreichisches Veto gegen den EU-Beitritt Tschechiens verlangt, sollte der durch zahlreiche Sicherheitsmängel bekannte Reaktor nicht stillgelegt werden. Die Volkspartei (ÖVP) von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel bezeichnet das Volksbegehren der Freiheitlichen als „überflüssig“, die rot-grüne Opposition zeigt sich in der Frage gespalten. Einerseits betonen SPÖ und Grüne, Temelín sei marode und stelle ein erhebliches Risiko dar. Andererseits lehnt man es ab, die Stillegung des Kraftwerks zur Bedingung für Tschechiens EU-Beitritt zu machen. „Das Veto ist für uns kein politisches Instrument“, legt SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer die Linie fest, doch stelle er es jedem Parteimitglied frei, das Volksbegehren zu unterschreiben. Die grüne EU-Parlamentarierin Mercedes Echerer erklärte der JUNGEN FREIHEIT (JF 48/01), Temelín sei kein EU-Beitrittshindernis für Tschechien, die „Agitation der FPÖ“ habe aber „eine schwierige Situation geschaffen“. Insgeheim hofft die Linke, das blaue Veto gegen Temelín könne die Wiener Koalition sprengen.

Nach Umfragen sprechen sich 77 Prozent der Österreicher für eine sofortige Stillegung Temelíns aus, das nur 50 Kilometer von der österreichischen und 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt liegt. Die FPÖ kann auf eine starke Beteiligung beim Volksbegehren hoffen: Bei einer Befragung erklärten zwei Drittel der Wähler, „sicher“ oder „wahrscheinlich“ unterschreiben zu wollen. Nicht unerheblich ist auch die massive Kampagne der auflagenstarken Kronen-Zeitung gegen den „Schrottreaktor“. Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider, auch nach seinem Rücktritt vom Parteivorsitz immer noch der starke Mann der FPÖ, wünscht dem Volksbegehren 700.000 bis 900.000 Unterstützer. Sollte gar mehr als eine Million Menschen das „Veto gegen Temelín“ einfordern, gerät Bundeskanzler Schüssel (ÖVP) schwer unter Druck.

Ende des vergangenen Jahres hatte Schüssel mit seinem tschechischen Amtskollegen Milos Zeman in Brüssel weitere Nachbesserungen der Sicherheitstechnik von Temelín vereinbart. Die ÖVP, eine traditionell EU-freundliche Partei, will neuen Streit mit Brüssel vermeiden, zu tief sitzt der Schock der „Sanktionen“, die Österreich im Jahr 2000 diplomatisch brüskierten. Während der Kanzler angab, das Energiekapitel der EU-Beitrittsverhandlungen sei nun abgeschlossen, protestiert der blaue Koalitionspartner heftig. Nach wie vor sei die Stillegung des Reaktors „zentraler Verhandlungsschwerpunkt“, betonte der FPÖ-Klubobmann im Parlament, Peter Westenthaler. „Ohne die Freiheitlichen gibt es keinen Beitritt Tschechiens“, erklärte er, „und mit den Freiheitlichen gibt es kein Kernkraftwerk Temelín.“ ÖVP-Klubobmann Andreas Khol erklärte dagegen, das Volksbegehren behindere die Suche nach einer Lösung. „Das Volksbegehren ist schädlich für die Sicherheitsinteressen Österreichs und entspricht nicht dem Regierungsübereinkommen“, sagte der Kanzlervertraute.

Nach dem Brüsseler Alleingang von Schüssel und dem Festhalten der FPÖ an ihrem Volksbegehren hat sich das Klima in der schwarz-blauen Koalition deutlich verschlechtert. Khol bestreitet zwar, daß es eine Krise der Wenderegierung gebe, er gesteht jedoch „Irritationen“ ein. „An Temelín darf aber die Wende nicht scheitern“, beschwört er die FPÖ. Nach Versicherungen Westenthalers, Haiders engstem Vertrauten, will auch die FPÖ einen Bruch der Koalition und Neuwahlen verhindern. Dabei steht die Partei in Umfragen nach einer längeren Durststrecke gut da: Erstmals liegt sie in der Wählergunst wieder vor der ÖVP, seit der blaue Kampf gegen den „Schrottreaktor“ die Schlagzeilen beherrscht. Kritiker werfen der Partei vor, sie spiele mit anti-tschechischen Stimmungen der Bevölkerung, die etwa wegen des Konflikts um die Aufhebung der Benes-Dekrete existierten.

Entscheidend für den Erfolg des Volksbegehrens wird sein, ob es gelingt, den Widerstand gegen Temelín überparteilich zu organisieren. Nach einer Umfrage fühlen sich 74 Prozent der Österreicher durch Atomkraftwerke „etwas“ oder „sehr bedroht“. Seit Beginn des Probebetriebes im Oktober 2000 gab es im südböhmischen Atommeiler fast dreißig Pannen. Im Januar 2001 mußte nach einem Ausfall der Pumpen der Reaktor abgeschaltet werden. Mehrfach brannte es, zuletzt im Maschinenraum. Wiederholte schwere Schäden an der Hauptturbine machten eine monatelange Reparaturpause nötig, Mitte 2001 traten 80.000 Liter radioaktives Kühlwasser aus, weil ein Arbeiter vergessen hatte, eine Klappe zu schließen.

Für Unruhe sorgten in Österreich Berichte tschechischer Zeugen über illegale Schweißarbeiten. Ein Arbeiter, der anonym bleiben wollte, wurde zitiert mit den Worten: „Das, was Sie jetzt wissen, ist weniger als zehn Prozent von all dem, was wirklich schief lief.“ Der Ingenieur Dalibor Strasky, in den achtziger Jahren am Bau von Temelín beteiligt, erklärte: „In Temelín wurde im wahrsten Sinne russisch gebaut. ‘Ein Sack Zement fürs Werk’, hieß es, ‘und einer für mich’.“ Da die Menge streng rationiert war, mußte der Zement gestreckt werden. Deshalb habe der Druckbehälter nun zu dünne Wände. „Mit den immer häufigeren Planänderungen in der Bauführung ab Mitte der neunziger Jahre ist der Bau praktisch außer Kontrolle geraten“, so Strasky, heute Berater des tschechischen Umweltministeriums und Atom-Gegner. Solche Stimmen lassen die Tschechen kalt. Etwa 75 Prozent stehen zu Temelín, das zu einem nationalen Symbol geworden ist. Ein Prager Journalist bedauert, „wer es kritisiert, ist ein von Österreich bezahlter Agent.“


 
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