© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/02 18. Januar 2002

 
CD: Rock
Aus dem Schatten
Holger Stürenburg

Von den Kinks hat man seit vielen, vielen Jahren nichts mehr gehört. Ihr letztes Major-Album „Phobia“ erschien vor nahezu neun Jahren. Danach hatte die Band wegen fehlenden kommerziellen Erfolges ihren Plattenvertrag verloren. Zwei bei Independentlabels erschienene Live-Alben gingen mangels Innovation und neuer Hymnen vollkommen unter. Ray Davies zog, solo zur Gitarre Geschichten erzählend, durch die Lande, seine Band hatte er erst mal auf Eis gelegt. Aber da gibt es ja auch noch seinen drei Jahre jüngeren Bruder Dave Davies, mit dem sich Ray einst auf so geniale Weise auf der Bühne stritt. Niemals kam Dave an die Reputation und Beliebtheit von Ray heran; unvergessen ihr Streit-Duett „Hatered“ auf dem 93er-Album „Phobia“. Und dies, obgleich Dave nicht nur ein phantastischer Gitarrist, sondern auch ein passabler Songschreiber ist, dessen eigene Stücke denen seines Bruders in kaum etwas nachstehen. Trotzdem stand Dave Davies fast durchgehend im Schatten seines Bruders. Jetzt hat er sich mit einem Livealbum unter dem Titel „Live at the Bottom Line“, veröffentlicht auf dem britischen Rocklabel Sanctuary, mit einem Paukenschlag in der Musikszene zurück gemeldet.

Die mit insgesamt 24 Songs und drei „Spoken Interludes“ bestückte CD war bereits Ende November 1997 im New Yorker Musiktheater „Bottom Line“ aufgenommen worden, als Dave dort zwei umjubelte Auftritte mit eigener Band zelebrierte. Begleitet von Kristian Hoffmann (key), Jim Laspesa (dr), Dave Jenkins (b) oder Andrew Sandoval an der zweiten Gitarre, legte der damals 50jährige Gitarrist zwei vorzügliche Shows hin, deren beste Momente für die vorliegende Live-CD festgehalten wurden. Dave präsentiert seinen Fans vor allem von ihm selbst geschriebene Songs aus seinen alle Jubeljahre erschienenen Soloalben, wie „Look through any Doorway“, „Imagination’s Real“ oder „Creeping Jean“. Auch seinen bislang größten Solohit „Death of a Clown“ hat er in wuchtiger Fassung neu eingespielt. Doch auch verschiedene, unbekanntere Songs der Kinks sind auf „Live at the Bottom Line“ dabei. Etwa der „Milk Cow Blues“, der im Original 1963 aufgenommen wurde, oder das einst als Ballade, hier jedoch als krachender Rocksong daher kommende „Tired of waitin‘ for you“. Die „Wicked Annabella“ wurde genauso von Ray für seine Kinks geschrieben wie der schnelle Opener „I need you“. Doch in der aktuellen Fassung von Dave und seiner Band gewinnen die einstigen Spezialistentips enorm an Charme und musikalischem Gewicht. Die dröhnende Rockgitarre steht im Vordergrund, die Tempi wurden durchgehend angezogen. Auch Cover-Versionen bekannter Rock’n’Roll-Hits haben Dave und seine Band neues Leben eingehaucht. Beispiele: Chuck Berry’s „Beautiful Delilah“ (1967 übrigens auch von den Kinks eingespielt), der Blues „One Night with you“ und das einst von den Stones bekannt gemachte „Money, that’s what I want“. Und zum Schluß seiner Shows kam Dave natürlich nicht umhin, einige der „all the Kinks Songs“ zu intonieren. So rockt er zu „All Day and all of the Night“ oder „You really got me“ mächtig ab. In den Zugaben gibt es „I’m not like everybody else“ und die grandiose, bislang unerreichte, dereinst von Ray Davies komponierte Hymne „Wish I could be like David Watts“.

Angesichts so geballter Power und so vieler genialer Hymnen aus der Geschichte des Rock’n’ Roll kann man schon ins Schwärmen geraten - und gut darüber hinwegsehen, daß Dave Davies zwar ein hervorragender Gitarrist ist, aber alles andere als ein phänomenaler Sänger. Trotzdem haben die Songs nichts von ihrem Charme und ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung eingebüßt - viel eher gewinnen sie in Daves Hardrockarrangements immens an Durchsetzungskraft, Energie und Aktualität hinzu.


 
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