© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002

 
Erdbeben in Karlsruhe
Parteien: Im NPD-Verbotsprozeß ist der mündliche Verhandlungstermin geplatzt / Bundesschatzmeister soll V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen sein
Thorsten Thaler

Das NPD-Verbotsverfahren (Az. 2 BvB 1/01 u.a.) vor dem Bundesverfassungsgericht ist vorerst überraschend geplatzt. Wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag mitteilte, sind die fünf für Anfang Februar geplanten Termine aufgehoben worden. Grund: Ein „langjähriges Mitglied des Bundesvorstandes und des Vorstandes eines Landesverbandes“ der NPD ist offenbar Verbindungsmann des Verfassungsschutzes. Äußerungen des betreffenden V-Mannes seien in den Verbotsanträgen von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat mehrfach als Beleg für die Verfassungswidrigkeit der NPD angeführt worden.

Nach ersten Informationen von Dienstag abend soll es sich bei dem VS-Spitzel um den langjährigen Bundesschatzmeister der NPD, Erwin Kemna, handeln. Der 51jährige Münsterländer Kemna, der auch Geschäftsführer des Verlags der NPD-Parteizeitung Deutsche Stimme ist, soll vom Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen als „Vertrauensperson“ geführt worden sein. Auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT wollte NPD-Pressesprecher Klaus Beier diesen Verdacht nicht bestätigen. „Erwin Kemna ist integer“, sagte Beier. Es kämen sieben bis acht Leute in die engere Auswahl, so Beier. In Karlsruhe hieß es, die neue Situation stelle sogar den Beschluß zur Einleitung des Verfahrens vom 1. Oktober 2001 in Frage.

Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) bedauerte die Entscheidung des Verfassungsgerichts, die mündlichen Verhandlungstermine zum NPD-Verbot auszusetzen. Das Gericht habe den Antragstellern keine Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben. Schily bestätigte, daß es sich bei einer der vom Verfassungsgericht geladenen Personen um ein NPD-Mitglied handelt, der als V-Mann tätig war. Ein Landesamt für Verfassungsschutz habe von ihm früher Informationen aus der NPD erhalten. Der Kontakt zu diesem NPD-Mitglied sei jedoch vor vielen Jahren beendet worden, sagte Schily. „Alle Äußerungen von ihm, die in den Antragsschriften als Beleg für die Verfassungswidrigkeit der NPD angeführt werden, stammen aus der Zeit lange nach Abbruch dieses Kontaktes“, erklärte der Minister.

Der Rechtsanwalt der NPD, Horst Mahler, zeigte sich am Dienstag abend auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT zuversichtlich, daß jetzt als Konsequenz aus der Karlsruher Entscheidung das gesamte Verbotsverfahren gegen die NPD „platzen“ werde. „Wir rechnen mit der Einstellung des Verfahrens“, sagte der ehemalige RAF-Terrorist Mahler.

CDU und Grüne forderten von Innenminister Schily eine umfassende Aufklärung. Es müsse geklärt werden, was Schily persönlich über den V-Mann gewußt habe, sagte der stellvertretende Fraktionschef der Union, Wolfgang Bosbach. „Eine mögliche Verbindung von NPD- Bundesvorstand und dem Bundesamt für Verfassungsschutz muß sofort und lückenlos aufgeklärt werden“, forderten auch die beiden Grünen-Abgeordneten Volker Beck und Cem Özdemir. Außerdem wollen die Grünen wissen, seit wann das Bundesinnenministerium über den Vorgang unterrichtet ist. Es sei „erklärungsbedürftig, warum das betroffene Landesamt für Verfassungsschutz die entsprechenden Stellen nicht vor Abfassung der Klageschrift auf den Charakter bestimmter Quellen hingewiesen hat“, ergänzte der Rechtspolitiker Volker Beck. „Wer das zu verantworten hat, muß seinen Hut nehmen“, sagte er. FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt sprach von einer „unglaublichen Blamage“ für den Innenminister.

Die mündliche Verhandlung vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorsitz der im April ausscheidenden Gerichtspräsidentin Jutta Limbach sollte an fünf Tagen zwischen dem 5. und 20. Februar stattfinden. Dazu waren neben Kemna weitere 13 Auskunftspersonen geladen: Per Lennart Aae, Holger Apfel, Jürgen Distler, Wolfgang Frenz, Thorsten Heise, Steffen Hupka, Uwe Leichsenring, Jens Pühse, Sascha Rossmüller, Jürgen Schwab, Frank Schwerdt, Christian Worch und Doris Zutt. Alle 14 Personen sollten ebenso wie der NPD-Vorsitzende Udo Voigt an allen Verhandlungstagen zur Verfügung stehen. Außerdem hatte das Gericht drei Gutachter zu der Verhandlung bestellt: die Politik-Professoren Jürgen Falter (Mainz), Eckard Jesse (Chemnitz) und Uwe Backes (Dresden).

Das Gericht hatte eine Verhandlungsgliederung geplant, in der verschiedene Themenkomplexe behandelt werden sollten, darunter das Verhältnis von Individium und Gemeinschaft; Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus; volksgemeinschaftliche Führungselite oder parlamentarische Repräsentation; die „Schlacht um die Straße“ und das Konzept der „befreiten Zonen“ sowie der Umgang mit politischen Gegnern.


 
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