© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/02 08. Februar 2002

 
„Utopie statt Therapie“
Rainer Beckmann über den Stammzellen-Beschluß des Bundestages und die Strategie der Verfechter grenzenloser Forschung
Moritz Schwarz

Herr Beckmann, Sie sind Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages und Sprecher der Juristen-Vereinigung Lebensrecht in Sachen Stammzellen. In der letzten Woche hat der Bundestag ein Gesetz zur Einfuhr embryonaler Stammzellen beschlossen. Was bedeutet diese Entscheidung nun konkret für uns?

Beckmann: Damit ist es möglich, Stammzellen nach Deutschland einzuführen, die aus Embryonen stammen, welche bei der Zellentnahme getötet wurden. Diese Verwendung von Embryonen ist in Deutschland verboten. Nun stellt sich die Frage, ob es ethisch zu vertreten ist, die auf diese Weise gewonnenen Stammzellen zu importieren. Der Bundestag hat diese Frage mit ja beantwortet.

Das entscheidende Argument war der sogenannte Stichtag.

Beckmann: Ja, das bedeutet, die importierten Stammzellen müssen alle von Embryonen stammen, die vor diesem Stichtag - spätestens bis zum Tag der Bundestagsentscheidung - getötet worden sind. Damit soll verhindert werden, daß im Ausland noch weitere Embryonen getötet werden, um deren Stammzellen nach Deutschland zu exportieren. Um einem Mißverständnis vorzubeugen, es geht beim Import von Stammzellen immer um die Stammzellen selbst, nicht um die Embryonen, die sind bereits bei der Entnahme gestorben. Aufbewahrt werden nur ihre Stammzellen.

Trotz dieser Auflagen kritisieren Sie den Bundestagsbeschluß.

Beckmann: Er ist zwar gut gemeint, geht aber an der Realität vorbei. Es gibt weltweit nur etwa 72 Stammzellenkulturen, aus denen durch Zellzüchtung weitere Stammzellen gewonnen werden können. Wird die Forschung aber ausgeweitet, benötigt man immer mehr und vor allem qualitativ bessere Stammzellen. Kritiker mahnen, die vorhandenen Stammzellinien reichten bereits jetzt für die geplanten Forschungen nicht aus.

Sie befürchten eine Salamitaktik?

Beckmann: Solch eine Strategie ist abzusehen. Die Entscheidung des Bundestages wird von den Befürwortern der Forschung mit embryonalen Stammzellen nur als erster Schritt gesehen. Schon jetzt wird die Forderung erhoben, embryonale Stammzellen auch in Deutschland herzustellen. Das würde bedeuten, daß Embryonen für Forschungszwecke getötet werden sollen. Bislang bestand Einigkeit, daß dies in Deutschland nicht passieren soll.

Wozu braucht man überhaupt Stammzellen?

Beckmann: Es gibt zwei grundsätzliche Ziele. Zum einen will man mit der Arbeit an Stammzellen erforschen, wie die Zelldifferenzierung beim Menschen überhaupt abläuft. Zum anderen will man sie therapeutisch einsetzen, das heißt Krankheiten heilen oder Defekte beheben. Denn aus Stammzellen kann man im Gegensatz zu herkömmlichen Zellen jede gewünschte Art von Gewebe züchten, also Herzmuskelzellen genauso wie Leber- oder Hautzellen. Embryonale Stammzellen können dem menschlichen Embryo etwa bis zum sechsten Entwicklungstag entnommen werden, bevor sie mit der Differenzierung in bestimmte Gewebe oder Organe begonnen haben. Stammzellen nennt man deshalb auch pluripotent. Sie lassen sich noch zu einer Vielzahl von Gewebetypen entwickeln.

Besteht nicht die Gefahr der Abstoßung? Wird dieses Gewebe im Körper integriert?

Beckmann: Jedes nicht körpereigene Gewebe wird grundsätzlich abgestoßen. Das ist eines der Probleme, welches die Verfechter der Stammzellforschung ungern zur Sprache bringen. Sie werben mit Therapien, die nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse eher Utopien genannt werden sollten. Wegen des Problems der Abstoßung muß letztlich - ist man überhaupt einmal so weit - das Material aus dem Gewebe des Patienten gewonnen werden. Das wiederum ist nur durch Klonen möglich. Dem Bürger ist heute nicht bewußt, daß die Forschung mit embryonalen Stammzellen auch das sogenannte therapeutische Klonen nach sich ziehen wird.

Kritiker des Stammzellenimportes verweisen auf die Möglichkeit, statt embryonaler sogenannte adulte Stammzellen zu verwenden.

Beckmann: Auch erwachsene Menschen haben, zum Beispiel im Knochenmark, Stammzellen, die sich vielseitig verwenden lassen, sogenannte adulte Stammzellen. Die Vertreter der Forschung an embryonalen Stammzellen wenden ein, die adulten Stammzellen hätten ein geringeres Entwicklungspotential. Wie groß das Potential der adulten Zellen ist, ist noch nicht geklärt. Eben deshalb sollte man erst einmal die Möglichkeiten, die uns die adulten Stammzellen geben, erforschen und ausnutzen, bevor man nach dem Einsatz embryonaler Stammzellen ruft. Dies gilt um so mehr, weil die Chancen, mit adulten Stammzellen schließlich auch zu einer therapeutischen Anwendung zu kommen, ohnehin als größer eingeschätzt werden können. Hier ist das Gewebe des eigenen Körpers verwendbar.

Und eine Abstoßungsreaktionen muß nicht befürchtet werden.

Beckmann: Ja, aber nicht nur das: Der weite Weg, den eine „jungfräuliche“ embryonale Stammzelle zurücklegen muß, bis sie sich endlich zur gewünschten spezialisierten Zelle entwickelt hat, birgt ebenfalls Probleme, die ihren therapeutischen Einsatz erschweren.

Der Biologe und Physiker Ernst Ulrich von Weizsäcker äußerte, embryonale Stammzellen seien für die Wissenschaftler und ihre Profilierung in Fachpublikationen eben besser geeignet als adulte Stammzellen. Zudem bestätigt er Ihre Vorbehalte gegen deren therapeutische Nutzung, embryonale Stammzellen könnten sogar bösartig wuchern.

Beckmann: Forscher sind eben nicht prinzipiell besser als andere Menschen. Natürlich gibt es für ihre Arbeit auch sehr fragwürdige Motive, sie forschen nicht nur um der Menschheit zu dienen, sondern teilweise auch, um möglichst viel Geld zu verdienen oder um berühmt zu werden.

Ärzte in Australien haben einem Unfallopfer die Hand eines Verstorbenen transplantiert. Als der allerdings nach einiger Zeit darum bat, die Hand wieder abzunehmen, weil es eben nicht die seine sei, sperrten sich die Ärzte.

Beckmann: Viele Ärzte und Wissenschaftler betreiben ihre Forschung und ihre Heilversuche in erster Linie, um zu beweisen, dies oder jenes sei machbar. Das Wohl des einzelnen bzw. der Gesellschaft steht nicht immer im Mittelpunkt. Dessen muß man sich bewußt sein.

In Deutschland gilt nicht die Befruchtung, sondern die Verschmelzung des männlichen und weiblichen Erbguts als Beginn des Lebens. Forschungstaugliche Stammzellen stammen aus fünf bis sechs Tage alten Embryonen, die also nach der Rechtsordnung auf jeden Fall schon gelebt haben. Wie ist deren Import dann überhaupt möglich?

Beckmann: Wie gesagt, bei der vom Bundestag getroffenen Entscheidung geht es um die Einfuhr von Stammzellen, nicht von ganzen Embryonen.

Das heißt, der Stammzellen-Import wird betrachtet wie die Einfuhr von Leichenteilen?

Beckmann: Grob gesagt könnte man es so ausdrücken. Wer ganze Embryonen nach Deutschland einführt, macht sich nach wie vor strafbar.

Da diese „Leichenteile“ aber nicht von Unfallopfern, sondern von gezielt getöteten menschlichen Lebewesen stammen, erscheint das in ethischer Hinsicht genauso problematisch wie der Import von Organen Hingerichteter aus China.

Beckmann: Der Import von Organen Hingerichteter wäre nach dem deutschen Transplantationsgesetz nicht zulässig. Es spielt für den Gesetzgeber durchaus eine Rolle, woher das Material stammt - nicht nur, ob damit segensreich gewirkt werden kann. Im Falle der Stammzellen wird dieser Grundsatz nun leider über Bord geworfen. Aber neben der ethischen Abscheu vor der Einfuhr von Organen Hingerichteter, ist so etwas bei uns auch deshalb verboten, weil man mit einer entsprechenden Nachfrage auch eine Ausweitung des Angebotes bewirkt. Im Falle embryonaler Stammzellen verschließt man sich nun plötzlich dieser Erkenntnis.

Wenn sich die Politik mit dem neuen Stammzellen-Import-Gesetz bezüglich der Achtung der menschlichen Würde moralisch auf so dünnem Eis bewegt, warum rufen sie dann nicht das Bundesverfassungsgericht an?

Beckmann: Ich persönlich halte die Ansicht, bei der Stammzellen-Frage gehe es auch um die Achtung der Menschenwürde, weil für die Gewinnung der Zellen menschliche Embryonen getötet wurden, durchaus für stichhaltig. Aber das Bundesverfassungsgericht würde dem möglicherweise nicht folgen. Der Embryo gilt zwar am fünften oder sechsten Tag bereits als menschliches Lebewesen, aber ob er bereits den Schutz der Menschenwürde für sich beanspruchen kann, ist bisher noch nicht entschieden. Hinzu kommt, daß wir es bei dem Import von Stammzellen nur noch mit den Überresten eines Lebewesens zu tun haben. Der Schutz der Menschenwürde ist dadurch nicht mehr direkt betroffen.

Welche Rechtsverbindlichkeit hat es denn überhaupt, daß in Deutschland die Verschmelzung von väterlichem und mütterlichem Erbgut (Verschmelzung der Vorkerne) den Beginn des Lebens markiert?

Beckmann: Das ist eine Festlegung des Embryonenschutzgesetztes, nicht des Bundesverfassungsgerichts. Würde das Bundesverfassungsgericht sich dieser Ansicht anschließen, wäre natürlich viel für den Schutz menschlicher Embryonen gewonnen.

Das heißt, in der Verfassung ist zwar die Würde des Menschen verankert, aber der Gesetzgeber ist nicht konsequent in ihrer Anwendung?

Beckmann: Der Gesetzgeber ist in diesen Fragen eher pragmatisch, dementsprechend hat er auch zum Beispiel in der Abtreibungsfrage der Praxis weite Spielräume eröffnet. Eine genauso pragmatische Haltung wird in der Handhabung des Embryonenschutzes gefordert. Konsequent im Sinne des Lebensschutzes wäre es, diesen Wertungswiderspruch dahingehend aufzulösen, auch in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs den ungeborenen Menschen stärker zu schützen. Das heißt, die Abtreibung künftig eher dem bisher gültigen Embryonenschutz anzupassen, als den Embryonenschutz der Abtreibungsregelung. Die Beratungsregelung bei der Abtreibung, die praktisch wie eine Fristenregelung funktioniert, kann als erste Bresche im vorgeburtlichen Lebensschutz betrachtet werden.

Hauptargument der Befürworter von Forschung an embryonalen Stammzellen ist, ohne entsprechende freie Forschung würde Deutschland „abgehängt“.

Beckmann: Zum einen habe ich schon auf die Alternativen aufmerksam gemacht, etwa die Forschung mit adulten Stammzellen. Andererseits ist zuzugeben, daß dieses Argument nicht völlig falsch ist. Wenn man allerdings die Konsequenzen dieses Arguments bedenkt, wird eines klar: Es geht nicht darum das Argument zu widerlegen, sondern darum, eine ethische Entscheidung zu treffen. Würde man alles tun, um nicht abgehängt zu werden, dann gäbe es letztendlich keinerlei ethische Schranken mehr. Es wird immer Länder geben, die ein geringeres Schutzniveau haben als Deutschland. Es kommt nicht darauf an, diesen nachzueifern, sondern darauf, daß die Industrienationen sich einig sind und ethische Maßstäbe setzen. Sonst wird das ethische Niveau immer weiter abgesenkt.

Das heißt, im ständigen Verweis auf das Ausland kommt das fehlende nationale Selbstbewußtsein zum Ausdruck, daß die Vorausetzung dafür wäre, den ethischen Standard der Deutschen international durchzusetzten?

Beckmann: Ja, Deutschland könnte durch einen entschlossenen Einsatz für den Lebensschutz der Vorreiter für eine andere Ausrichtung der Forschung in Europa sein. Notfalls sollten wir auch bereit sein, einen Sonderweg zu gehen, wie wir das schon mit dem Embryonenschutzgesetz gemacht haben. Ein vergleichbares Gesetz gibt es nirgendwo auf der Welt.

Der Bundestag hat also eine begrenzte politische, aber eine unbegrenzte Richtungsentscheidung getroffen?

Beckmann: Ich bin überzeugt, daß die Entscheidung des Bundestages zum Stammzellimport der erste Schritt zur verbrauchenden Embryonenforschung ist.

Drohen gelockerte Gestzte in puncto Lebensschutz nicht vor allem unser Bewußtsein für diese wichtige Frage zu verändern, so daß ein Schritt, der uns heute noch inakzeptabel erscheint, für die nächste Generation nur noch folgerichtig ist?

Beckmann: Rechtsvorschriften sind nicht nur Ausfluß gesellschaftlichen Bewußtseins, sondern sie bilden auch wiederum Rechtsbewußtsein. Vielen Menschen, die sich nicht die Mühe machen, ihre ethischen Normen selbständig zu erarbeiten, übernehmen einfach das, was als Gesetz fixiert ist, als ethische Richtschnur. Das kritische Bewußtsein, das heute noch in solche Kompromisse wie jetzt im Falle des Stammzellen-Importes einfließt, ist in der nächsten Generation vielleicht schon verloren. Der vorgeburtliche Lebensschutz läuft Gefahr, immer weiter abgeschwächt zu werden. Eines Tages könnten auch die Geborenen ihres Lebens nicht mehr sicher sein.

 

Rainer Beckmann geboren 1961in Würzburg. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften trat er in den bayerischen Justizdienst ein. Von 1995 bis 1997 war er Referent für Strafrecht und Öffentliches Recht in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Seit 2000 ist er Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, und bereits seit 1997 stellvertretender Vorsitzender der „Juristen-Vereinigung Lebensrecht“ im

„Bundesverband Lebensrecht“, Juristen-Vereinigung Lebensrecht, Postfach 501330, 50973 Köln

„Bundesverband Lebensrecht“, Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin

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