© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/02 08. Februar 2002

 
In spezielle Einrichtungen einsperren
Frankreich: Die Veröffentlichung der aktuellen Kriminalitätsstatistik wird zum heißen Wahlkampfthema
Charles Brant

In Frankreich hat das Verbrechen Hochkonjunktur: Nicht nur die bewaffneten Raubüberfälle, sondern auch die Jugendkriminalität erleben einen rekordverdächtigen Anstieg. Politiker der Linken und Rechten ergehen sich in gegenseitigen Beschuldigungen und Polemiken darüber, welche Gegenmaßnahmen zu ergreifen sind.

Im letzten Jahr hat die Gewalttätigkeit gegen Personen um fast zehn Prozent zugenommen - innerhalb eines Jahrzehntes verdoppelte sich die Zahl solcher Delikte. Erstmals wurden von den Polizeibehörden insgesamt über vier Millionen Straftaten erfaßt. Mit insgesamt 1.088.585 Straftaten im Zuständigkeitsbereich der Gendarmerie wurde erstmals die Einmillionenschwelle überschritten. Die Zahlen, die das Innenministerium am 28. Januar veröffentlichte, zeigen einen Anstieg der bewaffneten Überfälle, Vergewaltigungen, Angriffe und Beschädigungen öffentlichen Eigentums. Der zunehmend hohe Anteil, den Jugendliche unter 13 Jahren an diesen Verbrechen haben, ist ebenso Anlaß zur Besorgnis wie die Tatsache, daß der Anstieg in ländlichen Gebieten stärker ist als in den Städten.

Schlechte Nachrichten für den Premierminister und voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin - um so schlimmer, weil seine Regierung seit einigen Monaten den Bürgern glaubhaft zu machen sucht, daß sie der Inneren Sicherheit Priorität einräumt. Die Hauptverantwortlichen der politischen Rechten haben die Statistiken sofort zum willkommenen Anlaß genommen, den Anstieg der Kriminalität als Versagen der Regierungspolitik zu interpretieren. Jean-Pierre Chevènement war sich nicht zu schade, ihrem Beispiel zu folgen. Dem ehemaligen Innenminister zufolge ist die hohe Verbrechensrate „vor allem der Unfähigkeit der Regierung zuzuschreiben, rechtzeitig die richtigen Maßnahmen zu ergreifen“.

Um diesem katastrophalen Eindruck entgegenzuwirken, veröffentlichte das Ministerium für staatliche Bildung wenige Stunden später Zahlen, die einen spektakulären Rückgang der Kriminalität in den Schulen dokumentierten. Der Bericht machte viel Wind um den symbolträchtige Rückgang um zwölf Prozent in dem „heißen“ Département Seine-Saint-Denise. Diese Zahlen, die der Bildungsminister Jack Lang wie ein weißes Kaninchen aus seinem Hut zauberte, kann man nur mit viel Mißtrauen aufnehmen, wenn man weiß, daß Erpressungen, Überfälle und Drohungen mittlerweile zum Schulalltag gehören. Wie untragbar die Lage für die Lehrer geworden ist, zeigte kürzlich der Skandal, als Erstkläßler einer Körperdurchsuchung unterzogen wurden.

Die Franzosen spitzen die Ohren. Die Innere Sicherheit scheint die wichtigste Problematik des kommenden Wahlkampfes zu werden. Rechte wie linke Polemiker haben sich schon voller Begeisterung des Themas angenommen. Erstere werfen der Linken vor, eine zu lasche Politik zu verfolgen und fordern drastische Maßnahmen vor allem gegenüber jugendlichen Delinquenten, unter ihnen viele Wiederholungstäter, die nach dem derzeit gültigen Statut von 1945 geradezu unantastbar sind.

Mehrere Präsidentschaftsanwärter, die - anders als Jospin und der amtierende Präsident Jacques Chirac - ihre Kandidatur schon offiziell erklärt haben, machen mit kernigen Äußerungen von sich reden. In den Spalten der Tageszeitung Le Monde vom 31. Januar nahmen sie kein Blatt vor den Mund. Jean-Marie Le Pen (Front National) fordert, die Strafmündigkeit auf zehn Jahre zu senken, die Familien straffälliger Jugendlicher haftbar zu machen und „spezielle Einrichtungen“ für jugendliche Straftäter zu schaffen. Alain Madelin (DL) will Dreizehnjährige vorübergehend in Haft nehmen, Sozialhilfeleistungen unter Aufsicht stellen, die Eltern zur Verantwortung ziehen und das Statut von 1945 ändern. Bruno Mégret (MNR) befürwortet die Aussetzung von Sozialhilfezahlung sowie Haftstrafen in Erziehungsanstalten für jugendliche Verbrecher. François Bayrou (UDF) erklärte, es sei „dringend geboten, die Möglichkeit zu schaffen, Jugendliche im Alter von 16 Jahren, die derzeit totale Narrenfreiheit genießen, in speziellen Einrichtungen einzusperren“. Und Chevènement spricht sich dafür aus, geschlossene Einrichtungen zu schaffen und „in Fällen schwerer Vergehen Sozialhilfezahlungen auszusetzen, wie es das Gesetz schon heute vorsieht“.

Präsidentschaftskandidat Charles Pasqua, der die neogaullistische RPR von Chirac 1999 verlassen und seine eigene Partei gegründet hatte, bemühte zusätzlich noch die Terroranschläge vom 11. September: diese zeigten, wie wichtig ein starker Staat sei. Der Vorsitzende der rechtskonservativen Partei RPF, der von 1986 bis 1988 Innenminister war, setzt sich daher unter anderem für eine Wiedereinführung der 1981 vom sozialistischen Präsidenten François Mitterand angeschafften Todesstrafe ein und fordert strengere Einwanderungsgesetze ein.

Ist das mehr als opportunistische Effekthascherei? Die französischen Durchschnittsbürger, die tagtäglich unter dem Gesetz des Dschungels leiden, wagen es zu bezweifeln. Zu Recht fragen sie sich, ob die politische Rechte nicht wenigstens eine Mitschuld an den beängstigenden gegenwärtigen Zuständen trifft. Die gesetzlosen Zonen sind schließlich nicht erst gestern entstanden. Das Viertel Goutte d’Or im Herzen von Paris etwa war schon vor vierzig Jahren ein notorisch heißes Pflaster. Die Gleichgültigkeit sämtlicher Regierungen hat zugelassen, daß es heute viele solcher Viertel gibt - die unkontrollierte Einwanderung, die stalinistische Stadtplanung, die möglichst viele Menschen auf möglichst engem Raum zusammenzwängt, die Tolerierung des Drogenhandels taten ein übriges. Auch die Schwächung des Rechtsstaates, die seit den Studentenrevolten im Mai 1968 ungehindert ihren Lauf genommen hat - bei einer korrupten Rechten auf wenig Widerstand stoßend -, spielt eine Rolle. Selbst die Polizei, die sich gerne als Opfer der Gewaltexplosion darstellt, ist nicht ganz unschuldig daran. Ihr gewerkschaftlicher Feudalismus, ihre internen Grabenkämpfe, ihr Talent zur Ineffizienz, ja sogar ihre übertriebene Mannschaftsstärke (die französische Polizei ist die zahlenmäßig größte in Europa) haben das Problem nicht besser gemacht. Und die Gendarmerie, eine „Prätorianergarde“ mit militärischem Status, Liebling aller Regime von Napoleon bis Mitterrand, hat noch nie vor Intelligenz gestrotzt. Kugelsichere Westen für alle Polizisten werden daran genausowenig ändern wie die Erhöhung der Mannschaftsstärke.

Seit Ludwig XIV. hat Frankreich eine Polizei, die dem Staat untersteht. Daß sie nicht mehr in der Lage zu sein scheint, innere Ordnung und Sicherheit herzustellen, ist nicht nur ein Paradox, sondern ein Armutszeugnis. Zukünftige Geschichtswissenschaftler werden hierin die Anzeichen einer moralisch zutiefst verfaulten Gesellschaft sehen, der jegliche Kohärenz abhanden gekommen ist, beschleunigt durch die Allmacht des Geldes und die Auflösung identitärer Bezugspunkte. Ob die Akteure und Statisten des gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampfes die Tragweite dieser Entwicklung überschauen, ist keineswegs sicher.


 
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