© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/02 08. Februar 2002

 
Pankraz,
Ernst Jünger und die Folgen des Blitzableiters

Bei Technikhistorikern hat das Jahr 2002 schon einen guten Ruf. Es liefert viele „runde“ Erinnerungen an technische Großtaten. Vor exakt hundert Jahren wurde der erste Büstenhalter auf den Markt gebracht (Firma Lindauer). Vor hundertfünfzig Jahren erfand Sam Fox in London den modernen ausfaltbaren Regenschirm mit dem ingeniösen Knickgestänge. Vor fünfhundertfünfzig Jahren wurde Leonardo da Vinci geboren, Vater aller technischen Erfindungskunst, dessen Anregungen von der Industrie bis heute nicht vollständig ausgeschöpft sind.

Alles überstrahlendes Hauptdatum ist aber die Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin vor zweihundertfünfzig Jahren, und zwar aus vielerlei Gründen. Wohl zum letzten Mal geschah es damals, daß ein Mann der „schönen“ Künste, ein Literat und Politiker, Satiriker, Staatsmann und Diplomat, direkt und erfolgreich in die Technikgeschichte eingriff. Und seine Erfindung, eben der Blitzableiter, war sehr viel mehr als irgendein praktisches Gerät, sie eröffnete ein ganzes riesiges neues Technikzeitalter, nämlich die Nutzung der Elektrizität, jener Urkraft, die bis zu Franklin immer nur angestaunt, bewundert und gefürchtet worden war und die nun einen beispiellosen Siegeszug rund um die Erde antrat, sie in Schwingung versetzend und monströs illuminierend, sie buchstäblich aus allen Fugen treibend.

Ernst Jünger hat das Ereignis in seinem Buch „An der Zeitmauer“ gebührend markiert und gewürdigt. Er sah darin einen gewaltigen Triumph der „antäischen“, der Erdmutter Gäa verbündeten Kräfte über die himmlischen Götter des Olymp. Von Anbeginn an war die Menschheit diesen Göttern, mit dem blitzeschleudernden Zeus im Zentrum, hilflos ausgeliefert gewesen, konnte ihre unbegreiflichen, aus dem Unfühlbaren heraus erfolgenden Schläge nur durch demütige Gebete abzumildern versuchen. Und nun, seit Franklin, war plötzlich eine neue Lage da.

Die zornigen Blitze des Zeus wurden buchstäblich außer Gefecht gesetzt, sausten durch bestimmte, antäisch schlau aufgestellte Antennen an Mensch und Haus vorbei direkt in die Erde und verpufften dort wirkungslos. Wirkungslos? Vielleicht hatte man sie via Blitzableiter sogar gefangen, machte sie sich untertan. Was für ein Sieg, was für eine Genugtuung für Gäa und die ihr verbündeten Titanen, die Zeus einst aus dem Himmel gestürzt und unter die Erde verbannt hatte! Zwar dauerte es noch ein (welthistorisch sehr kurzes) Weilchen, bis sich die Menschen über die Konsequenzen dieses Titanensieges klar wurden, doch dann begriffen sie den außerordentlichen Trick, der Franklin gelungen war.

Man mußte, um Zugang zu staunenswerten Energien zu erhalten, sich nicht mehr körperlich verausgaben, man mußte auch nicht, wie im Falle der Dampfkraft und der Explosionsmotoren, dröhnendes Maschinenwesen installieren, das dauernd geölt werden wollte, daß die Räder und Zähne nicht stockten und zerfetzten. Man mußte „nur“ Kathode und Anode aneinanderhalten, damit der nützliche Funke übersprang, man mußte Differenzen, Kadenzen und Niveauunterschiede beachten, damit der elektrische Dämon ins Fließen kam und sich kontrolliert entlud.

Und es machte dabei wenig oder nichts, daß man kaum verstand, was wirklich vorging. Wir haben die Elektrizität „gebändigt“, wir benutzen sie und sie prägt unser Leben, aber was sie an sich „ist“, wissen wir nicht. Wir haben keinen Wahrnehmungsapparat für sie, wir haben keinen elektrischen Sinn, und rational begreifen können wir sie letztlich auch nicht.

Gewiß, die Elektronen sind negativ geladen und sehnen sich nach Positivität. Sie „fließen“, wenn man ihnen ein Bett bereitet und ihnen am Ende das rote Tuch der Positivität hinhält, und dieser Fluß läßt sich in Bewegung und Wärme und Bild und sonstige Informationen umsetzen. Aber was da eigentlich fließt und warum, wissen wir nicht. Wir operieren in unserer elektrifizierten Welt mit einer rabendunklen „Black Box“, die Elektrizität ist eine jener „Grundkräfte“ der Welt, die sich beharrlich weigern, sich zu einer „Weltformel“ zusammenschließen zu lassen.

Jünger macht in der „Zeitmauer“ eine kühne Spekulation: Es könnte sein, daß die Erde selber nicht „weiß“, was es mit der Elektrizität auf sich hat. Denn obwohl diese im mikro- wie makrokosmischen Haushalt eine entscheidende Rolle spiele, sei sie bei der Gestaltung des Lebendigen faktisch nie ins Bild getreten. Sei der Mensch vielleicht dazu bestimmt, durch sein Eindringen in die elektrischen „Brunnenstuben, wo die Stoffe ihr Gewand ablegen wie Tänzer, die zur reinen Bewegung übergehen“, eine Art „Selbstbefreiung der Materie“ in die Wege zu leiten?

Das klingt freilich ein bißchen sehr nach antäischer Anmaßung. Muß denn das Fehlen elektrischer Lebewesen, fragt sich Pankraz, unbedingt Ausfluß von „Unwissenheit“ sein? Läge es nicht statt dessen nahe, hier eine geduldige Strategie des Lebendigen zu vermuten? Jünger schreibt ja selbst: „Als ein erstaunliches, nicht fortgeführtes, vielleicht in Reserve gehaltenes Experiment darf man die elektrische Ausrüstung gewisser Fische auffassen. Es wären Welten denkbar, die auf solchen Organismen aufbauen, sie auch vergeistigen.“

Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt der Natur, sowenig wie die Erde im Mittelpunkt des Universums steht. Gäa ist dem Olymp grundsätzlich unterlegen. Benjamin Franklin, indem er die Blitze „erdete“, hat der Erde dadurch keine kosmischen Kräfte zugeführt. Er war auch kein Tyrannenbezwinger, wie die berühmte Inschrift auf seiner von Turgot geschaffenen Büste nahelegen will: „Eripuit coelo flumen sceptrumque tyrannis“. Sein Anliegen war viel schlichter: Er wollte fleißige Bürger und ihre Fabriken vor Einschlägen von oben schützen, so wie hundert Jahre später Sam Fox die Bürger vor unerwarteten nassen Duschen von oben schützen wollte. Beides verdient erinnert zu werden.


 
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