© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/02 15. Februar 2002

 
Ein deutsches Requiem
In seinem Alterswerk erzählt Günter Grass vom Untergang der „Wilhelm Gustloff“
Doris Neujahr

Das neue Buch von Günter Grass ist keine Überraschung, es war einfach fällig. Wer sein in fast fünfzig Jahren entstandenes Werk auch nur kursorisch zur Kenntnis nahm, der hat gewußt, daß dieses Thema unablässig in ihm arbeitete. Allerdings, wundern durfte man sich schon darüber, daß dieser Wortkünstler aus Danzig, dem die Trauer über den Heimatverlust unzählige, skurril-einprägsame Figuren, barocke Romane und dialektgesättigte Histörchen eingab, nicht auch einmal explizit über Flucht und Vertreibung und vom allerletzten deutschen Kapitel seiner Heimatstadt erzählte. Die naheliegende Frage hat er an den Anfang seines Buches gesetzt: „Warum erst jetzt?“

Grass gönnt sich selber einige Auftritte: Als „alter Mann, der sich müdegeschrieben hat“ und erkennt, seinem ureigenen Thema ausgewichen zu sein und deshalb bittere Selbstkritik übt: „Gleich nach Erscheinen des Wälzers ‚Hundejahre‘ sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er - wer sonst? - hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht.“ Und weiter: „Niemals, sagt er, hätte man über soviel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen (...) dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.“ Und dies: „Leider, sagt er, sei ihm dergleichen nicht von der Hand gegangen. Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch: sein Versagen.“

Nun hat er, im fortgeschrittenen Alter, diesen Stoff doch noch aufgegriffen. Einen Grund dafür deutet die anonyme Widmung „in memoriam“ an: Er, der zufällig Überlebende, ist den Toten, die keine Stimme mehr haben, etwas schuldig geblieben. Die letzten Zeitzeugen sterben, und ihm ist bewußt, daß es seine Aufgabe ist, die unerzählten Geschichten vor den Furien des Verschwindens zu retten.

Die Gefahr der geschichtlichen Legasthenie wird durch die Amerikanisierung unserer historischen Wahrnehmung noch gesteigert. Hollywoods „Schmachtfetzen kolossaler Spielart“ (der merkwürdige Phraseologismus ist ein Seitenhieb auf Steven Spielberg) sind dabei, die kollektive Erinnerung der Deutschen zu kolonisieren und ihren Blick auf die eigene Geschichte zu bestimmen. Gegen diese demagogisch-populäre Erzählweise geht Grass „im Krebsgang“ an, mit welchem man „der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß“.

Zum Märtyrer der NS-Bewegung stilisiert

Um Stoff und Emotionen zu bändigen, hat er die strenge Form der Novelle gewählt. Das unerhörte Ereignis darin ist die Torpedierung des mit 10.000 Flüchtlingen überladenen KDF-Schiffes „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 vor der pommerschen Küste. Bei eisiger Kälte starben in der Ostsee rund 9.000 Menschen, darunter 4.000 Kinder: Eine Katastrophe, die zum Symbol und Fanal in einem sonst namen- und ortlosen Millionendrama geworden ist.

In dieser Katastrophe finden auch die Lebenswege dreier grundverschiedener Männer symbolisch zusammen, die jeder ein Stück Geschichte verkörpern. Der eine ist Wilhelm Gustloff, aus dem mecklenburgischen Schwerin stammender Namensgeber des Schiffes. 1917 wegen einer Lungenkrankheit in die Schweiz verzogen, baute er dort eine schlagkräftige NSDAP-Auslandsorganisation auf. Am 4. Februar 1936 wurde er in seinem Wohnort Davos von einem jungen Juden erschossen. Ein Jahr später taufte Hitler den neuerbauten KDF-Dampfer auf den zum Märtyrer der NS-Bewegung aufgestiegenen Gustloff.

Sein Mörder David Frankfurter, ein verbummelter Student, wollte mit seiner Tat die Demütigungen rächen, die ihm und seinen Verwandten in Deutschland zugefügt worden waren. Dafür wurde er zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er neun verbüßte.

Die dritte Person ist der russische U-Boot-Kommandant Alexander Marinesko. Er befahl die Torpedierung der „Gustloff“. Marinesko, ein Liebhaber der Frauen und des Alkohols, war verspätet von einem Landgang zurückgekehrt und fürchtete die Verhaftung durch den russischen Geheimdienst, der in ihm einen Spion vermutete. Um sich in den Augen der Staatsorgane zu rehabilitieren, erschien ihm ein veritables Massaker als das Richtige. Die völlig überfüllte „Gustloff“ bewegte sich in den verminten Gewässern nur sehr gemächlich und hatte Positionslichter gesetzt. Über den weithin nichtmilitärischen Charakter des Schiffes konnten kaum Zweifel bestehen.

Mit seiner Darstellung widerspricht Grass jenen, die den Untergang des Schiffes lediglich als ein weiteres Beispiel selbstverschuldeter Gewalt, die nun eben auf die Deutschen zurückgeschlagen sei, erklären. Marinesko erteilte seinen Mordbefehl, um eine persönliche Gefahr abzuwenden, die wiederum der paranoiden Logik des linkstotalitären Systems entsprang. (Nur am Rande: Nichts anderes hat Ernst Nolte je behauptet!)

Natürlich hat Grass die Publikationen von Heinz Schön ausgewertet und Frank Wisbars Spielfilm „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1959/60), der heute nicht einmal mehr in den gängigen Lexika erwähnt wird, kritisch analysiert. Die unmittelbare Schilderung der Gustloff-Katatstrophe nimmt aber nur verhältnismäßig wenig Raum ein. Grass beschränkt sich auf ein paar Schlaglichter, so auf das Chaos bei der Einschiffung, in dem Kinder von der Schiffsbrücke ins eiskalte Wasser stürzten und unter dem Geheule ihrer Mütter zwischen Kaimauer und Schiffsrumpf ertranken. In Fehleinschätzung der Seetüchtigkeit des Schiffes und um eine Panik zu vermeiden, wurden nach der Torpedierung viele Passagiere von der Besatzung in das panzerverglaste Promenadendeck abgedrängt. Wie in einem überdimensionierten Aquarium sanken sie in die Tiefe. Allerdings gibt Grass den Versuch, die panische Stimmung in apokalyptische Bilder zu bannen, bald auf: „Niemand kann das beschreiben.“

„Im Krebsgang“ ist auch ein Buch über ausgebliebene und verhinderte Trauerabeit. Als Ich-Erzähler fungiert der Journalist Paul Pokriefke, der Sohn der Tulla Pokriefke, die bereits aus „Katz und Maus“ und den „Hundejahren“ als eine Art weibliches Gegenstück zum Blechtrommler Oskar Matzerath bekannt ist. 1986 hieß es noch in der „Rättin“, sie sei wahrscheinlich mit der „Gustloff“ untergegangen. Doch nein, Tulla, die hochschwanger auf das Schiff gelangte, hat die Katastrophe überlebt und unmittelbar nach ihrer Rettung, noch am 30. Januar 1945, einen Sohn entbunden. Sie strandete in Schwerin. Dem Leid, das hinter ihr lag, konnte sie in der DDR nur mit einem „Binnichtzuhauseblick“ Ausdruck geben. Um zu überleben, verhärtete sie sich und wurde eine entschiedene Stalin- und Ulbricht-Anhängerin.

Sprachrohr und Rächer der Großelterngeneration

Innerlich fühlt sie sich bloß noch als ein Zufallsgast auf Erden: „Ech leb nur noch dafier, daß main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen.“ Die Erfüllung dieses Wunsches läßt auf sich warten, weil man „ieber die Justloff nicht reden jedurft hat. Bai ons im Osten sowieso nich. Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und sowas jeredet.“

Ihr Sohn Paul empfindet die Umstände und das Datum seiner Geburt als Trauma. Er ist nach West-Berlin gegangen, wo er sich als Journalist durchschlägt und pflichtgemäß über „den biodynamischen Gemüseanbau und Umweltschäden im deutschen Wald (berichtet), auch Bekenntnishaftes zum Thema ‚Nie wieder Auschwitz‘“ liefert. Er und seine geschiedene Frau, eine Lehrerin, sind der personifizierte Durchschnitt jener Generation, die unter dem Topos der „68er“ subsumiert wird und das Land heute prägt.

Aber nicht Paul, sondern sein Sohn Konrad, Tullas Enkel, der der „linkslastig mütterlichen Dauerbelehrung“ entkommen will und zur Großmutter zieht, forscht dem „Gustloff“-Erlebnis nach. In demselben Maße, in dem er sich zum Sprachrohr und Rächer der zur Stummheit verurteilten Großelterngeneration berufen fühlt, verachtet er die ignorante, mit einseitiger Optik ausgestattete Generation seiner Eltern. Das Wissen über die „Gustloff“ stellt er ins Internet, er gerät in Neonazi-Kreise, und in E-mail-Duellen mit einem Altersgefährten aus der „Nie-wieder-Deutschland“-Fraktion radikalisiert er sich zum Antisemiten. Sein Vater wird zufällig Zeuge seiner Aktivitäten und vertieft sich nun selber in den „Gustloff“-Stoff.

Dabei stößt er auf ein Foto von „Gustloff“-Matrosen: „Achtzehnjährige mögen sie sein. Einige Jungs, die während der letzten Kriegsmonate in Uniform fotografiert wurden, sind noch jünger. (...) Alle tragen ihre, wie man zugeben kann, kleidsamen Matrosenmützen mit der umlaufenden Bandaufschrift ’Kriegsmarine‘ schräg, meist mit leichter Rechtsneigung. Ich sehe gerundete, schmale, kantige wie pausbäckige Gesichter von Todesanwärtern. Die Uniform ist ihr ganzer Stolz. Ernst blicken sie mich an, als bestimme Vorahnung ihren zuletzt fotografierten Ausdruck.“

Einfühlsame Sätze über junge deutsche Soldaten

Bei solchen Sätzen stockt man, liest sie ein zweites, ein drittes Mal, ohne sich erinnern zu können, wann man vergleichbar innige, einfühlsame Sätze über junge deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die nach dem Willen unserer ach so humanen Opfer-Selektoren in den marxistisch-leninistischen „Mülleimer der Geschichte“ gehören, zuletzt gelesen hat. Mit dieser Verteidigung seiner eigenen, tragisch dezimierten Generation gibt Grass eine klare Anwort auf Reemtsma und seine journalistischen Claqueure, die keine Aufregung, nur Verachtung verdienen.

In solchen Sätzen stecken neben der persönlichen Trauer auch Resignation und Ekel über eine politische Debattenkultur, an der er selber mitgestrickt hat. Unter der Fahne des „Antifaschismus“ feiern Opportunismus, Feigheit, Karrierismus und Mitläufertum ihren Triumph. Der Beruf des Ich-Erzählers steht ja stellvertretend für eine ganze Schicht tonangebender, wendiger Intellektueller, die sich selber nie in existentiellen Entscheidungssitationen behaupten mußten, aber genau zu wissen glauben, wie andere sich in ihnen hätten verhalten müssen.

Und das ist Grass’ böses Fazit über den BRD-Durchschnitt à la „68“: „Immer bin ich bemüht gewesen, zumindest politisch richtig zu liegen, nur nicht falsches zu sagen, nach außen hin korrekt zu erscheinen. (...) Ob in Springers Zeitungen oder bei der taz, stets habe ich nach vorgegebenem Text gesungen. War sogar ziemlich überzeugt von dem, was mir von der Hand ging. Den Haß zu Schaum schlagen, zynisch die Kurve kriegen, zwei Tätigkeiten, die mir wechselweise leichtfielen. (...) Das Thema gaben andere vor. So hielt ich Mittelmaß, rutschte nie gänzlich nach links oder rechts ab, eckte nicht an, schwamm mit dem Strom, ließ mich treiben, mußte mich über Wasser halten ...“

Immerhin, Paul Pokriefke beginnt an sich zu zweifeln. Seine Mutter erklärt mit entwaffnender Selbstverständlichkeit, vom KdF und seinem Feriendampfer „Wilhelm Gustloff“ begeistert gewesen zu sein, weil auch kleine Leute erstmals „verräisen jedurft“ haben. Die Antwort auf die Frage, wie er sich wohl selber verhalten und über den Stapellauf des Schiffes berichtet hätte, fällt nüchtern und ehrlich aus: „(...) wie alle anderen das Maul gehalten“, und: „(...) es kommt mir vor, als sei ich begeistert und schwitzend vor Feigheit dabeigewesen“.

Anhand zweier Extremfälle unternimmt Grass eine Fundamentalkritik an der verkorksten Volkserziehung und Vergangenheitspolitik in Deuschland: Das eine Extrem wird personifiziert von Konrad, der sich als Nationalsozialist in der Tradition des „Parteilinken“ Georg Strasser sieht. Mit seinem Eigensinn und Mut zum Querreden ist Konrad der eigentliche Krebsgänger im Buch. Im Grunde ist er sympathisch und hat eine Fülle positive Eigenschaften, die freilich keine positive Betätigungsmöglichkeit finden und daher ins Negative ausschlagen.

Das andere Extrem ist sein Internetdisputant Wolfgang Stremplin, ein Abiturient, der in einer württembergischen Pfarrersfamilie aufgewachsen ist. Er ist zum Neurotiker geworden, hat eine jüdische Opferidentität angenommen und nennt sich „David“. Über das Internet verbreitet er seinen Haß auf alles Deutsche.

Beide, Konrad und Wolfgang, werden zu spiegelbildlichen, selbstzerstörerischen kleinen Monstern. Genau an der Stelle in Schwerin, wo sich das Grab des Gustloff befand, kommt es zum Showdown: Wie David Frankfurter 1936 den Wilhelm Gustloff erschoß, streckt Konrad jetzt den vermeintlichen David nieder, als der auf die Überreste des Gustloff-Denkmals spuckt.

Literarisch ist die Novelle kein Meisterwerk

Das neue Grass-Buch hat viele starke und ergreifende Stellen, die an die große, durch die „Blechtrommel“ und das „Treffen in Teltge“ markierte Zeit des Schriftstellers erinnern. Gleichwohl verdankt seine Wirkung sich vor allem dem Stoff und den Selbstzitaten, es ist kein literarisches Meisterwerk. Dafür sind die Figuren zu auffällig idealtypisch gebaut und Handlungsstränge zu sehr als lehrhafte Parabeln konstruiert. Aber wenn man 75 wird und noch immer viel zu erzählen hat, wenn man mit Irrtümern und Versäumnissen aufräumen will, dann hat man es eilig und legt auf Kunsthandwerk im engeren Sinne nicht mehr soviel Wert.

Schon wird von einem „Tabubruch“ und „Paradigmenwechsel“ gesprochen, den Grass eingeleitet habe, und kurz nach Erscheinen des „Krebsgangs“ ist eine Neuverfilmung des „Gustloff“-Stoffes angekündigt worden. Gerechterweise ist anzumerken, daß er nicht der erste ist, der Flucht und Vertreibung thematisiert hat. Aber offensichtlich hat erst Grass mit seiner ganzen großen, zuletzt durch den Nobelpreis beglaubigten Reputation, die Macht, diesem Thema einen gebührenden Platz zu verschaffen. Er hat einen Pflock eingeschlagen, an dem niemand mehr vorbei kann.

Der Schriftsteller Günter Grass ist stets klüger gewesen als der politisierende Publizist. Seine Ankündigung, im anstehenden Bundestagswahlkampf gegen Edmund Stoiber aktiv zu werden, muß auf die Verehrer seiner Literatur alarmierend wirken.

Günter Grass sollte sich dieses politische Engagement verkneifen. Die Politik ist nicht sein Metier, Stoiber ist kein Haider und kein Berlusconi. Das Talent von Grass ist für die Tagespolitk zu kostbar. Viel eher sollte er seine Memoiren schreiben oder noch mehr über die Toten der großen Flucht. Die Toten warten darauf, daß ihnen die Worte von den verstummten Lippen genommen werden. Und die Lebenden wollen wissen, was die Toten ihnen zu sagen haben. Wer sollte es ihnen sonst erzählen?

Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Steidl Verlag, Göttingen 2002, 216 Seiten, geb., 18 Euro

 

Günter Grass, 1927 in Danzig geboren, lebt heute in Lübeck. 1999 erhielt er den Nobelpreis für Literatur (JF41/99)


 
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