© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/02 15. Februar 2002

 
Die Tücken des Pluralismus
von Reinhart Maurer

Wenn die „Streitkultur“ unserer „offenen Gesellschaft“ wirklich offen wäre für die wichtigsten Beiträge, so gäbe es eine lebhafte Diskussion über das kürzlich im Junge Freiheit-Verlag auf deutsch erschienene Buch „Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus - die andere Moderne“ von Alain de Benoist.

Zunächst geht es um Kommunismus und Nazismus und damit um den Totalitarismus von gestern. Im Westen ist es seit den 50er Jahren üblich geworden, beide politischen Systeme und Ideologien unter diesen stark negativ besetzten Oberbegriff zu fassen, freilich differenzierend bis hin zu der Behauptung, sie seien unvergleichbar: der Nazismus sei total verbrecherisch gewesen, der Kommunismus aber nicht. Die negativste Seite beider Totalitarismen ist die Massenvernichtung von Menschen. Das Warum ist vor allem erklärungsbedürftig. Zweitens jedoch ist erstaunlich, daß der Nazismus gemeinhin als schlimmer, ja als das absolut Böse gewertet wird, obwohl die Opferzahl des Kommunismus etwa dreimal größer ist, wie spätestens seit dem Erscheinen des „Schwarzbuch des Kommunismus“ 1997 bekannt ist. Das dritte erklärungsbedürftige Phänomen ist, daß die Anprangerung des Nationalsozialismus nicht nur die des Kommunismus übersteigt, sondern daß sie paradoxerweise stärker wird, je mehr Zeit vergeht. Benoist bietet einen interessanten Erklärungszusammenhang für alle drei Phänomene. Seine These: Die Moderne insgesamt hat totalitäre Tendenzen. Sie finden in der Postmoderne ihre Fortsetzung unter dem Deckmantel des „Antifaschismus“.

Beim Nationalsozialismus, so sagt man, gehörte der Massenmord zum Programm. Er war durch und durch menschenverachtend und verbrecherisch. Nach biologischen Merkmalen (Rasse bzw. Abstammung) wurden die Menschen selektiert, als wertvoll oder minderwertig oder schädlich und auszurotten. Der Kommunismus dagegen sei ein rationalistisches, humanistisches Projekt gewesen, das schiefgelaufen sei, „sozusagen die ungeschickte Anwendung einer heilsamen Ideologie“. Der Kommunismus war seiner löblichen Absicht nach eine Bewegung fortschrittlicher Emanzipation. Warum kam es dann in seinem Namen zur Massenvernichtung von Menschen? Warum konnte er gerade in dieser Hinsicht zum Vorläufer und Vorbild des Nationalsozialismus werden? Man muß nach dem gemeinsamen Nenner beider Systeme suchen, der es rechtfertigt, sie als totalitär zu bezeichnen. Das jedoch ist nicht möglich, wenn man sagt, das eine von ihnen sei einzigartig, ja absolut böse, habe das Verbrechen um des Verbrechens willen betrieben.

Eine solche Sicht der Dinge kommt heraus, wenn man das ideologische Selbstverständnis der nationalsozialistischen Täter nicht berücksichtigt - offenbar deshalb nicht, weil es neben anderen auch moderne, fortschrittliche Züge enthält und damit die Moderne und den Fortschritt kompromittiert. Für die nazistische Menschenvernichtung gab es eine wissenschaftliche oder vielmehr pseudowissenschaftliche Begründung, die durchaus auf der Linie des neuzeitlichen Meliorismus liegt, nämlich: Ausmerzung schlechten Erbgutes, Züchtung der reinen, höherwertigen Rasse und damit Verbesserung der menschlichen Natur insgesamt.

 

„Man baut den Faschismus als allgegenwärtigen Feind auf, bis die Menschen keine andere Alternative mehr wahrnehmen als die zwischen Liberalismus und Horror. Die liberalen Systeme können sich nun alles leisten.“

Der Rassenkampf entspricht demnach einem darwinistisch verstandenen „Willen der Natur, die das Niveau der Lebewesen zu heben trachtet“ (Adolf Hitler). Er wird mit messianischem Aktivismus betrieben, ähnlich wie beim Kommunismus der Klassenkampf, der auf Ausrottung der durch ihre Zugehörigkeit zur besitzenden Klasse hoffnungslos Verdorbenen hinauslaufen kann. Nach beiden Ideologien müssen die Menschen verschwinden, die dem angepeilten Geschichtsziel entgegenstehen. Raymond Aron spricht von Klassen- und Rassenmessianismus. Jeweils heiligt ein höchst gerechtfertigt scheinender weltverbessernder Zweck die Mittel. Die gesamte Gesellschaft als eine neue, allererst herzustellende (die autopoietische, „sich durch sich selbst erzeugende Gesellschaft“) ist auf ihn zu organisieren, und das impliziert zweierlei: 1. den radikalen Bruch mit der Herkunft und die Verwerfung des Bestehenden und damit 2. die Auflösung aller herkömmlichen Zwischenkörperschaften zugunsten eines Dualismus von Zentralmacht, die den fortschrittlichen Zweck durchführt, und gleichgeschalteten, atomisierten Individuen, die ihn prinzipiell wollen oder wollen sollen, aber ihm zum Opfer fallen, wenn die Zentralmacht befindet, daß sie ihm nicht entsprechen. Das sind nach Benoist die Wurzeln des Totalitarismus als eines spezifisch modernen Phänomens mit entweder soziologischem oder biologischem Messianismus im Hintergrund. Von daher rechtfertigt er seinen Zugriff aufs Individuum bis hin zu dessen Vernichtung. Der moderne Fortschrittsglaube stellt dazu die Weichen, da nach ihm die vergangene und die je gegenwärtige Menschheit und ihre Welt einen nur relativen Wert gegenüber dem künftig Möglichen haben . Tendenziell ist der je gegenwärtige Zustand nur das Material für einen künftig besseren, den man technopolitisch herstellen kann. Eine zynische postmoderne Position könnte daher sagen: Wozu noch Auschwitz? Wir haben jetzt die Gentechnik.

Der Liberalismus jedoch bekennt sich zu schon gegenwärtig geltenden Menschenrechten und verurteilt die Rechtfertigung offen inhumaner Mittel, zu welchem Zweck auch immer, als totalitär und verbrecherisch. Auf der Ebene der politischen, teilweise auch der technischen Mittel ist also die Differenz offenkundig. Wenn man jedoch nach Inspiration und Zielsetzung fragt, dann treten moderne Gemeinsamkeiten zwischen Kommunismus, Nazismus und Liberalismus hervor. Auch der Liberalismus ist eine neuzeitlich-melioristische Ideologie, doch will er sein Ziel, die Etablierung einer marktwirtschaftlichen Menschheitsdemokratie auf hochtechnisierter Basis eher mit friedlichen, evolutionären, nicht mit revolutionär-gewaltsamen Mitteln erreichen. Was ihn vom Nazismus unterscheidet, nämlich seine universalistisch-egalitären Ideale, verbindet ihn mit dem Kommunismus. Benoist zitiert dazu Ernst Noltes These, „daß die liberalen Demokratien und der Kommunismus dasselbe Ideal teilen und daß sie sich nur in der Art der Verwirklichung unterscheiden“. Damit zeigt sich eine enge Verbindung des Liberalismus zum kommunistischen Totalitarismus, die im Anschluß an die Allianz zwischen den Westmächten und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg dazu führt, vor allem den sogenannten Faschismus als das totalitäre Böse anzusehen. „Faschismus“ (ursprünglich nur der Name einer italienischen Bewegung, von der fraglich ist, ob sie totalitär war) wird in Übernahme sowjetischer Propaganda zum Sammelbegriff für „rechten“ Totalitarismus („linken“ gibt es in kommunistischen Lexika nicht), und der „Antifaschismus“ wird zum politisch korrekten Konsens der Nachkriegszeit bis heute. Was dabei Faschismus heißt, wird immer unklarer. Er wird zu einem „Gespenst, das man für allgegenwärtig hält“, zu einem „lähmenden und abstoßenden Mythos“., Die Gefährlichkeit dieses Mythos liegt darin, „sämtliche Pathologien der gegenwärtige Welt als geringere Übel angesichts des absoluten Übels akzeptieren zu lassen“, bis die Menschen keine andere Alternative mehr wahrnehmen als die zwischen „Liberalismus und Horror“. Die forcierte Erinnerung an die Naziverbrechen, zumal den Massenmord an den Juden, ist ein wesentlicher Bestandteil der Immunisierungsstrategie des Liberalismus unter Führung der USA. Dank des absolut Bösen, das mit dem Nazismus/Faschismus in die Geschichte getreten sei, präsentiert sich seine Gegenmacht, der global expansive Liberalismus, als die einzig vernünftige Alternative, die in einem endgeschichtlichen Kampf zur Ausrottung des Bösen zur Wahl steht. Darum die immer noch wachsende massenmediale Präsenz nazistischer Untaten. Die virtuell vergegenwärtigten Schrecken der Vergangenheit produzieren die Gegenwart des „Antifaschismus“. Der Liberalismus braucht diesen Konsens im Negativen, um selbst umso positiver zu erscheinen und seine gegenwärtigen Probleme, einschließlich der Ansätze eines neuen, postmodernen Totalitarismus zu verharmlosen.

Nach Benoist waren die bisherigen Totalitarismen Produkte einer Moderne, die nunmehr abgeschlossen ist. Doch nach der Erledigung seiner Konkurrenten ist der von den modernen politischen Systemen allein übriggebliebene Liberalismus nun dabei, die totalitäre Erbschaft der Moderne anzutreten. Wenn die Totalitarismen außer reaktionären auch moderne Dimensionen hatten, wie Autoren wie Hannah Arendt, Adorno, Foucault oder Ernst Nolte annehmen, so kann man daraus auf eine totalitäre Dimension der Moderne schließen. Sie hat sich prototypisch in der Französischen Revolution gezeigt, durch die bereits Massenliquidierungen im Namen des Fortschritts zu einer neuen, besseren Gesellschaft und Menschheit durchgeführt wurden. Schon in ihr kam die moderne Tendenz zum Durchbruch, die Freiheit durch Gleichheit zu bestimmen und das, was in diese gleiche Freiheit nicht paßt, zu eliminieren. Ziel ist die homogene Menschheitsgesellschaft, „die Reduzierung der Welt auf das Gleiche“, „die Freiheit zum Immergleichen“ (Adorno/Horkheimer).

Benoist zitiert auch Claude Polins Vermutung: „Den Totalitarismus begreifen, heißt möglicherweise begreifen, daß die Industriegesellschaft ebenso wie die demokratischen Systeme zwei Erscheinungsformen aufweisen, eine liberale und eine totalitäre“. Die Demokratie ist keine Gewähr dafür, daß die Gesellschaft freiheitlich bleibt. Zum Thema „totalitäre Demokratie“, „totalitärer Liberalismus“ greift Benoist über Autoren wie Herbert Marcuse, Jacob oder L.Talmon auf den Klassiker Alexis de Tocqueville zurück.

 

„Gegen eine Diktatur der Masse richten die traditionellen revolutionären Mittel nichts mehr aus. Das Volk hält selbst seine Kette in der Hand, wie Tocqueville schon 1840 formulierte. Seitdem hat sich daran nichts geändert.“

In seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ hatte er 1840 geschrieben: „Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftauchen könnte: ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich ... Vergnügungen zu verschaffen ... Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern ... Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, vorsorglich und mild ... Jeder duldet, daß man ihn fessele, weil er sieht, daß weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst das Ende der Kette in Händen hält.“

Damit jedoch hat die Demokratie prinzipiell teil an der totalitären Konstellation eines Dualismus von Zentralmacht und Individuum, wobei dieses trotz aller institutionellen Sicherungen letztlich nur hoffen kann, daß die Zentralmacht milde bleibt. Im Ernstfall ist es gegen sie eine verschwindende Größe. Postmodern verkörpert sie in Form riesiger Herrschafts- und Entscheidungsmechanismen sowie als die globalisierte Macht des Marktes den weiteren Fortschritt der Menschheit. Wenn’s gut geht, führt er zu mehr Freiheit und Menschlichkeit, zugleich aber zum immer perfekteren oder vielmehr komplexeren Funktionieren der „Megamaschine“ einer kapitalistisch-technokratischen Einheitskultur, die fortschreitend ihre Naturbasis ruiniert.

Bei seiner Kritik dieser globalen Gleichschaltung nimmt der „Rechte“ Benoist Topoi auf, die bisher eher von „links“ kamen. Von der Verdinglichung der sozialen Beziehungen ist die Rede, von „Warensklaven“, von der Beziehung jeden Wertes auf die Kriterien des kommerziellen Nutzens, von der Zensur durch den Markt, sowie überhaupt davon, daß Markt, Technik und Kommunikation heute die Legitimität der vollständigen Weltherrschaft beanspruchen und daß damit eine bestimmte Art von Vernunft, eine nicht pluralistisch-demokratische, sondern eine technokratisch-monistische, einen totalitären Anspruch auf Konsens erhebt, obwohl sie auch ökologisch höchst bedenklich ist. Aus diesen Ansätzen „linker Kritik“ wird bei Benoist, der sich zu einer „bewußt querverbindenden Denkweise“ bekennt, die „rechte“ Alternative einer Betonung kultureller Vielfalt gegen die globalen Einheitsansprüche des Liberalismus unter Führung der USA. Der liberalistische Pluralismus tendiert in Richtung eines kommerziell reduzierten Individualismus. Isolierte Individuen verwirklichen sich selbst in unterschiedlichen Konsumvorlieben, die aber zugleich massenhaft reklamegelenkt sind. Benoist spricht von „Scheinpluralismus“ und sucht in Absetzung davon nach einem substantiellen Pluralismus. Die Achtung vor der menschlichen Verschiedenheit und eine Politik der Vorsicht ohne totalen Bruch mit einer verschiedenartigen Herkunft ist nach ihm das Merkmal „rechter“ Politik, die nun an der Zeit sei als Alternative zu einem neuen postmodernen Totalitarismus. Substanziell wird ein „rechter“ Pluralismus dadurch, daß die Individuen nicht durch eine universalistische Ideologie unmittelbar - „hypermoralisch“ würde Arnold Gehlen sagen - auf die Totalität Menschheit bezogen sind, sondern konkret vermittelt durch herkünftige, daraus entwickelte, sowie neue Zwischenkörperschaften. Sie geben als Kulturen, Religionen, Nationen, Völker (auch Familie?) individueller Verschiedenheit einen konkret allgemeinen, nicht bloß abstrakt menschlichen Rückhalt: Individuelle mit kollektiven Identitäten in Wechselwirkung.

Was aber können die seßhafteren Zwischenkörperschaften leisten, die Benoist als das rechte Heilmittel gegen postmodernen Totalitarismus vorschlägt? Das müßte deutlicher werden, damit mehr dabei herauskommt als eine bloß intellektuelle Rebellion.

 

Dr. Reinhart Maurer ist em. Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.


 
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