© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002

 
„Deutschland war ihr wichtig“
Interview: Susanne Zeller-Hirzel, Mitglied der Weißen Rose, über unbeschwerte Jahre im Dritten Reich, den Weg in den Widerstand und ihre Freundin Sophie Scholl
Moritz Schwarz

Frau Zeller-Hirzel, wie Sophie Scholl, deren Todestag sich am 22. Februar zum 59. Mal jährt, gehörten Sie zu der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. Zuvor allerdings waren sie - genau wie Sophie Scholl - Führerin im nationalsozialistischen Jungmädel-Bund. Wie haben Sie die Zeit des Nationalsozialismus erlebt, bevor sie in den Widerstand gingen?

Zeller: Die ersten drei Jahre nach der Machtergreifung habe ich als sehr schöne Zeit in Erinnerung...

...„sehr schön“? - Die nationalsozialistische Zeit wird heutzutage stets als eine durch und durch finstere Epoche dargestellt.

Zeller: Ich weiß, aber so war es eben nicht. Wir alle - Hans Scholl, Sophie Scholl, Inge Scholl und ich - verlebten zunächst eine glückliche Zeit bei der Hitlerjugend, die ja anfangs auch noch durch die eingegliederten Jugendbünde der Weimarer Republik beeinflußt war. 1934 waren 3,3 Millionen junge Menschen bei der HJ, freiwillig und ohne Druck, denn erst Ende 1936 wurde der Beitritt obligatorisch. Es wehte dort der frische Wind des Aufbruchs. Je mehr sich die Bewegung allerdings etablierte, um so mehr kamen fragwürdige Elemente nach oben: Der Bettelmann kam aufs Ross.

Wie haben Sie Sophie kennengelernt?

Zeller: Bei meiner Verpflichtung 1935 hielt Inge Scholl - Sophies Schwester - als hohe Funktionärin in Ulm die Festrede und leitete die Zeremonie. Inge war damals 19 Jahre alt und hat mich sofort in ihren Bann geschlagen. Ich bat sie, sie einmal zu Hause besuchen zu dürfen und habe dabei Sophie kennengelernt.

War Sophie freiwillig in der HJ?

Zeller: Absolut, alle fünf Kinder der Familie Scholl traten im Herbst 1933 bzw. im Winter 1934 freiwillig ein.

Waren Sie aus politischer Begeisterung für den Nationalsozialismus in der HJ?

Zeller: Nein, wir waren aus Liebe zur Heimat, aus Begeisterung für die Natur und das natürliche Leben und wegen der Gemeinschaft der Jugendlichen dort. Natürlich wurden wir aber politisch indoktriniert, uns wurde erzählt, daß es minderwertige und hochwertige Menschen gäbe und daß es nur natürlich sei, daß der Stärkere den Schwächeren besiege. Das hat uns nicht gefallen, denn wir wußten aus unserem christlichen Glauben, daß vor Gott alle Menschen gleich sind, immerhin kamen wir alle aus christlichen Familien.

Hatten Sie in der Schulklasse nicht Kinder von Kommunisten oder Juden, die die Repression des Regimes zu spüren bekamen?

Zeller: Meine drei Brüder und ich haben im Ulmer Gymnasium keinerlei Abgrenzung gegenüber Juden erlebt, und ich glaube sagen zu können, daß es vor den Nazis in Ulm kein „Judenproblem“ gab.

Was meinen Sie?

Zeller: Ich meine, daß Partei und SA zwar gewaltig gehetzt haben, die Juden in Ulm aber meist angesehen Bürger waren. Ich selbst hatte eine jüdische Freundin, ihre Eltern waren ganz gewöhnliche schwäbische Leute, der Vater war Rechtsanwalt. Damit Sie das besser einschätzen können: Die Hetze der Nazis in Ulm war - so wie wir sie erlebt haben - weit weniger heftig als die Hetze „gegen Rechts“ im vergangenen Herbst im Zuge des sogenannten „Aufstandes der Anständigen“.

Veränderte sich die Situation, als 1935 die Rassengesetze erlassen wurden?

Zeller: Ich habe die Repression gegen die Juden erst ab etwa 1937 wahrgenommen - 1936 war sowieso noch einmal Ruhe, wegen der Olympiade. Die Situation hat sich mit der Zeit verschärft, es war nicht so, wie es heute gern dargestellt wird, daß ab 1933 schlagartig Dunkelheit in Deutschland herrschte.

Wie gerieten Sie in Widerspruch zur HJ?

Zeller: Wir hatten statt dem Emblem der HJ bewußt Runen auf eine Fahne genäht. Das ließ man nicht durchgehen und warf uns zwar nicht aus dem Bund, lösten uns aber als Führerinnen ab.

Litten Sie darunter?

Zeller: Nein, wir hatten uns innerlich schon so weit von der HJ entfernt, daß wir froh darüber waren.

War Sophie die treibende Kraft?

Zeller: Das weiß ich nicht mehr.

Wie erlebten Sie Sophie damals?

Zeller: Sie war lebendig, lustig, keck, gar überschwenglich - recht burschikos und gelegentlich mutwillig. Mit 16 Jahren wurde sie immer nachdenklicher, unsere Schulmädchenfreundschaft wandelte sich.

Dachte sie im Gegensatz zu den anderen schon politisch?

Zeller: Erst ab 1938, da waren wir 17 Jahre alt. Die Sudetenkrise ließ damals ganz Europa vor einem neuen Krieg zittern und auch wir haben große Angst empfunden. Zudem kam im November die „Reichskristallnacht“, das hat uns natürlich zutiefst schockiert. Ich weiß noch, wie ich mich geschämt habe gegenüber den Nathans, der Familie meiner jüdischen Freundin. Und all das obwohl im Eingang des Ulmer Münster ein Glaskasten hing, mit einem Spruch Hitlers: „Das Christentum ist die Grundlage unseres Staates“. Da erkannte ich, wie verlogen der ganze Nationalsozialismus war. Einmal musizierte ich bei einer Veranstaltung zur Verleihung von Mutterkreuzen. Während der Verleihung ging mir durch den Kopf, wir seien doch ein Volk ohne Raum. Wieso aber wurde dann überreicher Kindersegen so honoriert? Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: „Die brauchen bloß Soldaten und es wird Krieg geben!“ Das hat mich ungeheuer empört. Der Hauptgrund war aber die fehlende Gedanken- und Kulturfreiheit. Und auch das falsche Pathos der primitiven Parteiführer war geradezu unerträglich.

Haben Sie sich darüber mit Sophie ausgetauscht?

Zeller: Zunächst in jeder Hinsicht. Ab 1938 sahen wir uns aber seltener, Sophie hatte einen Freund, Fritz Hartnagel, Offizier der Wehrmacht, und ich war sehr gebunden, durch Familie und Schule. Aber das Jahr 1938 hat Sophie tatsächlich verändert, sie wurde stiller, zurückhaltender und sehr nachdenklich. Und sie las zunehmend katholische Literatur.

Hat Sie mit Ihnen über Fritz Hartnagel gesprochen?

Zeller: Nein, das hat Sie geheim gehalten - sie konnte verschwiegen sein.

Wie haben Sie und Sophie den Ausbruch des Krieges erlebt?

Zeller: Sophie hat den Kriegsausbruch regelrecht erlitten, sie empfand echten Schmerz darüber, daß nun die Menschen einander töteten.

Der Krieg stellte sich zunächst nicht als rassistischer Eroberungskrieg sondern als gerechte Heimholung Deutschland völkerrechtswidrig vorenthaltener Gebiete dar.

Zeller: Das wurde allgemein begrüßt, natürlich auch von mir. Ebenso schließlich auch der Polenfeldzug, weil er uns als letztes Mittel dargestellt wurde, nachdem die andere Seite alle friedlichen Versuche, einen völkerrechtskonformen Zustand wiederherzustellen, abgeschmettert hatte. Wie Sophie da gedacht hat, weiß ich im einzelnen nicht mehr. Allerdings fühlte ich andererseits, daß spätestens seit Hitlers Einmarsch in Prag von unserer Seite aus ein Raubkrieg begonnen hatte. Im 5. Flugblatt der Weißen Rose, das ich in Stuttgart verteilt habe, hieß es „Das ist kein nationaler Krieg“. Wir wollten klar machen, daß Hitler und Deutschland zwei verschiedene Dinge sind.

Das heißt, Sie hatten trotz allem ein positives Verhältnis zu Deutschland?

Zeller: Aber sicher, es war doch unser Vaterland.

Sah das Sophie auch so?

Zeller: Natürlich, Deutschland war ihr wichtig. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, es zu hassen Sie ist später im Gestapo-Verhör gefragt worden, ob sie wieder so handeln würde. Sie sagte: „Ja, weil ich es für das Richtige für mein Volk halte.“ Und denken Sie nur an Professor Kurt Huber, der die Flugblätter mitformuliert hat und auch zum Tode verurteilt wurde. Er schrieb seiner Frau aus dem Gefängnis: „Freu Dich mit mir, ich darf für unser geliebtes Vaterland sterben.“ Ähnliches schrieb auch Willi Graf.

Also war die Weiße Rose ein patriotischer Widerstand?

Zeller: Auf jeden Fall, man handelte bewußt für Deutschland, hatte eine Zukunftshoffnung für unser Vaterland, hoffte auf ein demokratisches Deutschland in einem föderalistischen Europa.

War das auch Sophies Hauptmotiv?

Zeller: Ihr Hauptmotiv nannte sie mir gegenüber einmal direkt, sie sagte: „Ich will nicht schuldig werden.“ Das hat mich sehr gerührt.

Wann wurden Sie in die Existenz der Weißen Rose eingeweiht?

Zeller: Im Oktober 1942 durch meinen Bruder Hans, dann besuchte mich Sophie zum Jahreswechsel 1942/43 - ich studierte inzwischen in Stuttgart, sie bei Professor Huber in München - und erzählte mir von der Gruppe. Ich merkte, sie war zu allem entschlossen, Sie phantasierte davon, Hitler zu erschießen, und ich spürte, sie war sogar bereit, ihren Tod in Kauf zu nehmen.

Hatten Sie keine Angst, als Ihnen die ersten Packen Flugblätter übergeben wurden?

Zeller: Das war das Flugblatt Nr. 5 und ich war außer mir und zwar sowohl vor Angst als auch vor Begeisterung. Ich dachte gleichzeitig „Das ist Wahnsinn!“ als auch „Toll! Großartig!“

Sie fühlten sich befreit?

Zeller: Ja, endlich freie Worte und eine Tat! Es war trotz aller Angst, als ob von mir die Ketten abfielen.

Wie haben Sie die Flugblätter verteilt?

Zeller: Ich habe sie in adressierten und frankierten Briefumschlägen über Postbriefkästen verschickt.

Bevor eine weitere Lieferung kam, wurden sie verhaftet.

Zeller: Am 18. Februar 1943 war Sophie verhaftet worden. Bereits vier Tage später, am 22. Februar, wurden sie hingerichtet, am selben Tag wurde ich verhaftet. Zusammen mit meinem Bruder Hans wurde ich zur Gestapo nach München gebracht. Stellen Sie sich vor, ich wurde auf der gleichen Pritsche in der gleichen Zelle wie zuvor Sophie untergebracht!

Was haben Sie bei der Nachricht von Sophies Tod empfunden?

Zeller: Ohnmächtige Wut.

Was geschah Ihnen?

Zeller: Hans und ich wurden relativ milde bestraft, er bekam fünf Jahre, ich ein halbes Jahr Gefängnis. Nach sechs blutigen Urteilen gegen den „harten Kern“ wollte man vielleicht Milde walten lassen, um populär zu bleiben. Letztlich kann ich auch nicht erklären, warum wir so glimpflich davon gekommen sind.

Fürchteten Sie zunächst, ebenfalls zum Tode verurteilt zu werden?

Zeller: In Haft ja, aber nicht mehr später, bei unserem Prozeß.

Wie haben Sie all das verarbeitet?

Zeller: Nach dem Krieg mußte ich in Psychotherapie; mich plagten Schuldgefühle gegenüber meiner Familie und psychosomatische Herzschmerzen.

Sie haben 1998 ein Buch veröffentlicht, warum?

Zeller: Wegen der falschen Darstellung der Nazi-Zeit in der Presse.

Zum Beispiel?

Zeller: Die Hetze gegen die Juden etwa wird völlig übertrieben dargestellt. In Wirklichkeit lief die Entrechtung der Juden quasi „leise nebenher“ ab. Heute wird Auschwitz ganz und gar in den Mittelpunkt gestellt. Das, was etwa unsere Soldaten erlitten und geleistet haben, wird dagegen unter den Teppich gekehrt. Auschwitz ist das, was von dieser Zeit in Erinnerung bleiben wird, so kann man mit dem deutschen Volk nicht umgehen. Man sollte dagegen lieber Ursprung und Wirkung der Diktatur untersuchen, sich mit den Konflikten der Menschen damals beschäftigen.

Die Geschichte wird heute also ideologisch und nicht historisch dargestellt?

Zeller: So ist es leider. Dabei glaube ich nicht, daß die Zeitungsmacher bewußt fälschen, die wissen es auch schon nicht mehr besser. Neulich sprach ich mit einem Mann mit Zopf, modern und tolerant, der zu mir sagte: „Hätte ich damals gelebt, ich hätte kein Gewehr in die Hand genommen.“ Solch ein Unsinn, der nette Mann weiß gar nicht, was er redet. Er beurteilt die Vergangenheit von der Gegenwart aus. Derartiges erschreckt mich. Deshalb habe ich mein Buch geschrieben, damit man die Zeit aus ihr selbst heraus verstehen kann. Andernfalls ist man blind gegenüber ähnlichen Versuchungen heute.

Warum wird diese Zeit, die dunkel genug gewesen ist, heute noch zusätzlich künstlich verfinstert?

Zeller: Das ist mir selbst ein Rätsel! Warum wird etwa die Wehrmachtsaustellung so begeistert aufgenommen?

Wurden Sie wegen Ihres Engagements für die Vergangenheit auch angegriffen?

Zeller: Menschen, die dreißig Jahre jünger sind als ich, sagen über mich, ich würde verdrängen. Da bin ich sprachlos. Obwohl sie noch nicht gelebt haben, wissen sie alle besser, wie es damals war. Aber so sind die Menschen.

Wenn die Analyse der damaligen Zeit nicht stimmt, dann stimmen auch all die daraus abgeleiteten, politisch korrekten Verhaltensweisen nicht.

Zeller: Die stimmen auch nicht, und weil sich die Menschen nie wirklich mit der damaligen Zeit beschäftigt haben, verfallen sie wieder in die gleichen Fehler. Auch heute haben wir keine echte Meinungs- und Pressefreiheit. Natürlich garantiert unser Staat die klassische Pressefreiheit, aber der öffentliche Druck ist oft so groß, daß man sich nicht mehr frei äußern kann. Zum Beispiel durch den bereits erwähnten „Aufstand der Anständigen“, der mich an die Massenveranstaltungen der Nazis erinnert hat.

Ein schwerer Vorwurf.

Zeller: In den letzten Jahren war ich gut mit einem Juden aus der Nachbarschaft, Dr. Hans Weil, bekannt. Er hat am Ende des Krieges unter de Gaulle gegen Deutschland gekämpft. Nach dem Krieg war er Oberlandesgerichtspräsident. Als Jude konnte er in der Bundesrepublik immer seine Meinung sagen. Doch einmal schrieb er an die Stuttgarter Zeitung, mit den Mitgliedern der Partei „Die Republikaner“ werde heute so umgegangen wie 1936 mit den Juden. Der Brief wurde nicht gedruckt, statt dessen erhielt er zur Antwort, die Republikaner würden doch heute wohl nicht umgebracht werden. Dabei bezog er sich auf das Jahr 1936, aber weder wurde der Brief richtig gelesen, noch verstanden, weil man überhaupt nicht weiß, wie es im Dritten Reich war, sondern nur ideologische Vorstellungen hat, und wer an diesen ideologischen Vorstellungen zweifelt, macht sich - wie damals - verdächtig.

Was denken Sie, wenn sie heute das Wort „Zivilcourage“ hören?

Zeller: Ach Gott, dazu sage ich nur eins, früher war der Widerstand lebensgefährlich, heute wird er staatlich gefördert.

 

Susanne Zeller-Hirzel, 81, war ab 1935 zusammen mit Sophie Scholl NS-Jungmädelführerin. Beide wurden enge Freundinnen und gehörten schließlich zur Widerstandsgruppe Weiße Rose. Während Sophie enthauptet wurde, erhielt Susanne eine Haftstrafe. In Ihrem Buch „Vom Ja zum Nein“ (Silberburg, 1998) hielt sie ihre Erinnerungen an diese Zeit fest.

 

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