© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002

 
Pankraz,
Peter Handke und die Stümper in der Wüste

Wie schlecht muß das Gute sein, um wirklich gut zu sein? Diese Frage „steht im Raum“, seitdem der Schriftsteller Peter Handke (in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung) die These aufgestellt hat, daß jeder große Roman über weite Strecken ein „Geröll“ sein müsse, eine „Unergiebigkeit“, um überhaupt Wirkung zu entfalten und Anteilnahme zu wecken. Goethes „Wahlverwandtschaften“ beispielsweise seien „zusammengestümpert“, der „Don Quijote“ von Cervantes könne einen „ordentlich anöden“. „Alle großen Dichter“, so Handke, „haben dieses Unergiebige ... Zum Epischen gehören die Wüsten und die Seitentäler, die Wadis.“

Im ersten Moment klingt das so, als spreche Handke hier ausdrücklich pro domo, etwa in dem Sinne: „Wenn Goethe und Cervantes unergiebig, öde und zusammengestümpert sind, warum dann nicht auch Peter Handke?“ Sein neues Buch, „Der Bildverlust“, versichert er eifrig, sei sogar „würziger“ als der „Don Quijote“. „Und auch gegenüber Stifter habe ich mich nicht zu schämen.“

Aber viel interessanter als die Erkundung, ob der Dichter Handke sich vor irgendeinem Kollegen schämt oder ob er würziger schreibt als Cervantes, ist die Frage, ob das Unergiebige und Wüstenhafte wirklich zur großen epischen Literatur dazugehört, ob also ein Romancier wirklich die Langeweile als Koautorin und heimliche Muse unabweisbar an seiner Seite hat. Es scheint so. An welches große Werk man sich auch erinnern mag, ob an Homers Odyssee oder Tolstois „Krieg und Frieden“, ob an Knut Hamsuns „Hunger“ oder Sternes „Tristram Shandy“ - selbst dort gibt es Wadis, Wüstenstrecken, „Durchhänger“, bloße textuale Schiebmasse, die nun einmal nötig ist, damit die Handlung vorankommt, damit der Leser den Überblick behält und die Imagination nicht verblaßt.

Das trifft ja auch für andere Kunstarten zu, für die Musik, die Oper, die Symphonie. Die Muster eines Teppichs können nur leuchten auf einem gleichförmigen, „langweiligen“ Untergrund, die strahlende Arie erhebt sich überm eintönigen Schrumm-Schrumm tonaler Taktgefüge. Partituren vollständig „auszuschreiben“, ist mechanische Knochenarbeit, Geröllproduktion, weshalb ja auch die alten Griechen (über deren Musik wir leider fast nichts wissen) das Schlagen des Borduns, des Grundtons in der Tragödie, den Sklaven überließen.

Pankraz kennt einen Schriftsteller, der sich schlicht weigert, Romane zu schreiben, weil er Wiederholungen und Floskeln haßt und die Aufgabe scheut, die nun einmal jedem Romanautor bevorsteht: sich auf Wiederholungen und Floskeln einzulassen. „Sagte sie“, „antwortete er höhnisch, indem er sich eine Zigarette anzündete“, „der Abend kam, der Mond ging auf“, „er umarmte sie leidenschaftlich, und sie verschmolzen zu einem einzigen Körper“ ... Keine noch so große Variabilität des Stils, kein noch so subtiler Wortwitz kann solchem Routinewerk entgehen, es gehört einfach in die Natur des Epischen hinein.

„Wo bleibt denn der Computer“, pflegt jener Schriftsteller zu seufzen, „in den ich alle meine ureigenen Spracheigenschaften einspeisen kann und der dann von sich aus die Routineabläufe und Routinesituationen nachbildet, die in meinem Roman vorkommen? Das wäre doch was! Ich gebe mein Generalkonzept ein, die Grundidee, den Hauptplot und die Nebenplots und die aparten Spezialeinfälle - und der Computer druckt das Ganze aus, aufgefüllt mit den notwendigen Wiederholungen und Floskeln, so daß ich das Manuskript nur noch zu redigieren und hier und da ein bißchen zu verfeinern hätte. Das wäre eigentlich das, was eines ernsthaften Geistesarbeiters würdig und ihm angemessen ist.“

Vielleicht wird dieser Computer für Romanautoren eines gar nicht fernen Tages tatsächlich hergestellt. Dann wäre freilich immer noch nicht entschieden, wieviel Unergiebigkeit und Geröllmasse ein Roman enthalten muß, um groß und wahrhaft vollendet zu sein. In der Lyrik darf es keine Wadis, keine ausgetrockneten Flußtäler und Durststrecken geben, und auf dem Theater schürzt sich der Knoten der Handlung in vorgegebener Knappheit und Strenge. Aber im Roman? Dessen Leser will keineswegs Zuckerkringel an Zuckerkringel, und er will auch keine dramaturgische Atemlosigkeit, wo die Ereignisse aufeinander zustürzen.

Romanleser sind in der Regel geduldige Leute, bereit und begierig, sich auf das Schicksal anderer einzulassen, auf deren „Lebensweg“. Im Wesen des Epischen liegt das Peripatetische, das Fußgängerische, die Wanderschaft, und dazu gehört eine gewisse Gleichförmigkeit, die Streckung des literarischen Aufwands. Man will nicht alles auf einmal, sondern man will ankommen. Je karger der Weg, umso üppiger das Ziel.

Romanautoren werden unter diesem Gebot partiell zu Verwaltern des Mangels, zu klugen Reiseführern durch die Wüste und durchs wilde Kurdistan. Sie produzieren die Geröllstrecken nicht nur, sondern sie machen sie auch begehbar, helfen über die Eintönigkeit mit klugen Scherzen oder Detailbeobachtungen hinweg. Und günstigenfalls (siehe Thomas Mann in seinen besten Passagen, die Frühstücksszenen im Zauberberg, die sich ewig gleichbleibenden Spaziergänge von Herr und Hund) tauchen sie die Banalitäten ins Säurebad einer Ironie, die an ihnen ganz unerwartete Konturen freilegt und sie für den Leser höchst erträglich macht.

Das Schlechte (Unergiebige, Öde) im guten Roman, so kann man zusammenfassend sagen, läßt sich schwer vermeiden, aber es läßt sich abmildern, ja, die Abmilderung ist geradezu eine Notwendigkeit, damit der Roman wirklich gut wird. Ob die von Peter Handke beanspruchte „Würzigkeit“ das richtige Laxativ ist, möchte Pankraz hier nicht erörtern. Alle Würze hilft übrigens nichts, wenn im Zentrum eines Werks, in der Oase also, die Aufwände dürftig bleiben, so daß man nicht einmal erfährt, was eigentlich gemeint war und ob man überhaupt irgendwo angekommen ist.


 
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