© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002

 
Ohne Staat geht es nicht
von Kai-Alexander Schlevogt

Die modernen Finanzkönige gaben sich beim New Yorker Weltwirtschaftsforum (Aufnahmegebühr: mindestens $15,950) wie frühere Monarchen. Jeder Protest gegen die 2.700 absolutistischen Wirt­schaftsmachthaber wurde im Keim erstickt. Dafür sorgten ihre 4.000 Leibgarden und mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln (den modernen Fasces) ausgerüsteten Liktoren. Diese umgaben die belagerte Tagungsfestung in „Gottes Lieblingsland“ mit einem mensch­lichen Wassergraben. Die Beschü­tzer (besonders auf Dächern verschanzte schwarze Scharfschützen) sahen den nach den Waffen der römischen Rutenmänner benannten Fa­schi­sten wenigstens äußerlich sehr ähnlich.

Anders als die feudalen Vorgänger kann der neue Geldadel, der Macht und Kapital anhäuft und untereinander enger verbunden ist als mit seinem Volk, sich nicht auf ein Gottesgnadentum berufen. Daher erwarten die Konsum-Untertanen mit Recht als Legitimierung ihrer Ausnahmestellung besondere Leistungen, gerade auf einem Forum, das intellektuelle Akzente für die Welt setzen möchte. Eine kritische Analyse - die bei der Konzentration auf den äußeren Schau-Rummel und den Drohgebärden eine Seltenheit darstellt - läßt aber Zweifel aufkommen, daß ein großer Wurf für eine neue Weltwirtschaftsordnung gelungen ist.

Statt zusammenführender Zukunftsvisionen reagierten die ethnozentrischen Wirt­schaftsmacher, die laut Forumsmotto „Führer in zerbrechlichen Zeiten“ sind, nur mit einem widersprüchlichen Stückwerk aus Vermutungen und Verzweiflungsakten. Der deutsche Bundeskanzler, der mit einer „Agenda für globale Sicherheit und Gerechtigkeit“ die falschen Ansätze anderer Politiker wiederholte, fungierte in intellektueller Hinsicht als Statist. Sogar amerikanische „Eine-Welt-Professoren“, die Deutschland kaum kennen und nicht mehr auf ihr eigenes, mittlerweile gescheitertes Modell verweisen mögen, konnten ihn mit Platitüden wie einen Schuljungen belehren. Er wurde so seiner Rolle als Ver­treter eines der mächtigsten und potential­reichsten Länder der Welt nicht gerecht.

Mit einer falschen Diagnose (der These, daß Armut Terror verursacht) kann keine effektive Therapie und Heilung erreicht werden, gerade dann nicht, wenn selbst die Mittel bedenklich sind. Die Global-Planer denken auch nicht dynamisch. Sie übersehen Wechselwir­kun­gen, die Teufelskreisläufe auslösen.

Zum einen möchten die Erdmagnaten im Zuge ihrer Reichsbildung weltumspannende Institutionen weiter stär­ken. Allerdings erfordert ein sich rasch wandelndes Umfeld stärkere Dezentralisierung und weniger Bürokratie, damit sich lokale Akteure schnell an veränderte Fronten anpassen können. Die Kosten der aufgeplusterten Institutionen belasten zudem die Haushalte der führenden Wirtschaftsnationen zusätzlich, ohne daß die Binnennachfrage erhöht und langfristige strukturelle Verbesserungen erfolgen.

Gleichzeitig erweitern die dirigistischen Kapitalsozialisten die Kontrolle und Ausgaben des Staates, finanziert durch höhere Schulden und (versteckte) Geldmengen-Erweiterung. An einer solchen unproduktiven Steinzeitpolitik ist der Kommunismus gescheitert. Erstens mangelt es gerade in der automatisierten Postmoderne an Pionieren und Unternehmern, nicht an zentraler Planung, denn die großen Konzeren erinnern schon jetzt an die Kommandowirtschaft eines staatlichen Leviathans. Eine gewisse Größe neutralisiert privatwirtschaftliche Anreize weitgehend und verwandelt Unternehmer in Funktionäre und Zahleningenieure.

Zweitens entspricht die wiederentdeckte Ausgabenpolitik nicht dem Geiste einer nachfragestimulierenden Politik, die das Dritte Reich mittels eines gigantischen Sozialexperiments erfolgreich einführte. Der englische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes (1883-1946) faßte sie nur mathematisch zusammen - die Engländer propagieren ihn fälschlicherweise als Vater der neuen Lehre.

Die re­vo­lutionäre deutsche Erkenn­tnis, daß Marktkräfte nicht immer zur Vollbeschäftigung führen und die Möglichkeit der wirtschaftsankurbelnden Beeinflussung der Nachfrage ist die wichtigste Entdeckung in den Wirtschaftswissenschaften nach Adam Smith, und vielleicht das erste Mal, daß Volkswirte dem Volke nützten.

Auf der Grundlage des von außenstehenden Experten entwickelten wirtschaftlichen Sofortprogramms der NSDAP von 1932 und des 1933 verabschiedeten „Gesetzes zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“- die Fäden wurden später von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht aufgegriffen - gelang es den Nationalsoziali­sten, per Dominoeffekt die Arbeitslosigkeit innnerhalb eines Jahres um ein Drittel und im zweiten Jahr um eine weitere Millionen zu senken und eine Wirtschaftsexplosion auszulösen. Die erstaunliche Leistung läßt sich nachträglich durch die Nutzbarmachung der latenten Produktionspotentiale an Arbeitslosen und ungenutzten Produktions­mitteln durch staatlich geförderte Großprojekte erklären. Diese volks­wirt­schaf­t­­lich produktiven, aber betriebs­wirt­schaftlich unrentablen Maßnahmen schloßen durch vergrö­ßerte Nachfrage die Kluft zwischen theoretischem Produktions­potential und tatsächlicher Produktion.

Diesem Wirtschaftswunder verdankt die NS-Regierung den starken Rückhalt im Volke - nicht einem Propaganda- oder Gewalt-Apparat, der nur vorrübergehenden Gehorsam bewirken kann. Gleiches gilt auch für die jetzigen globalen Nachtwächter, die häufig schlafen: Großes Gipfeltheater und Medienberieselung können das Volk nicht immer von dem wirtschafts­politischen Versagen ablenken. Man kann nicht alle Menschen ständig täuschen!

Anders als bei der keynesianischen Politik sollen die durch Steuereinnahmen eingetriebenen beträchtlichen Mittel neben der Finanzierung von teuren Elite-Partys und deren Schutz zur „Terrorbekämpfung“ genutzt werden. Unter diesem Deckmantel wird das unproduktive Militär weiter ausgebaut, mit dem die Welt auf dem Wege der „Verteidigung“, erobert wird. Allein die USA bestreiten nach Schätzungen min­des­tens 40 Prozent der gesamten Weltmilitärausgaben. Dies übersteigt sicher, was zum Schutz der Heimat nötig ist. Solche Gelder sind tote Ausgaben, denn außer dem begrenzten Nachfrage-Effekt, ausgehend von bestochenen Politikern, Waffenhändlern, Rüstungslieferanten und deren Zulieferer, dient Militärmaschinerie weder dem Verbrauch noch der Anlage. Anstatt aufzubauen, zerstört oder verrrostet sie. Gleichzeitig bombt man ganze Länder entlang einer imaginären weltumfassenden „Teufelsachse“ aus und baut sie danach wieder mit Mitteln von Scheckbuchdiplomaten wie Deutschland auf - und die Opfer danken sogar noch für die Hilfe! Die Nachfrage in den neuen Kolonien (besonders nach hochwertigen Gütern) kurbelt dann die Wirtschaft der Aggressorstaaten an.

Der Volkswirt kann einer solchen kostspieligen Zerstörung von Produktionsfaktoren und Nachfragemanipulation nicht zustimmen. Die Zinsen führen in eine Schuldenfalle, in der ein Großteil der Staatseinnahmen aufgezehrt wird. Selbst mit den größten Sparaktionen flieht man nicht mehr aus der Zinsspirale. Außerdem tragen spätere Ge­ne­rationen die Lasten der Finan-zierung­ - es sei denn, die Kriegsbeute und Tribut erleichtern sie. Wäre es nicht besser, man erzielt einen Überschuß und bezahlt mit den eingenommen Zinsen lebensbeför­der­nde Vorhaben? Zudem erzeugt die Verbreitung von Terror durch offensive Kriegsführung mehr Widerstand als sie vereinzelte Untergrund-Angriffe bekämpft. Durch die mili­tä­rische Treibjagd steigt wie beim Treibauseffekt die Hitze in den Köpfen und damit der Aufwand für „innere Sicher­heit“.

Schließlich reizen die Schulden selbst zum Krieg an, mit dem (eigene) alte Rechnungen beglichen werden, die von den Kriegsgeldgebern eingefordert werden. Die Gewinner streichen satte Reparationen ein­ - entweder direkt, in Form von Geld, Investitionsgütern, Technologie und Köpfen, oder indirekt durch Beitrags­zahlungen in von dem Sieger kontrollierten internationalen Organisationen. Bei den Verlierern erfüllen geldentwertende Hyper­inflation und anschlie­ßende Wäh­rungs­reformen den Zweck, das Volksvermögen für die Schuldtilgung zu vereinnahmen.

Trotz der augenscheinlichen Internationalität des Weltwirtschaftsforums ist die Stichprobe der Beteiligten nicht repräsentativ und die Reihe der möglichen Modelle nicht komplett. Aufgrund der Nabelschau des Westens wird nur ein kleiner Weltaus­schnitt gesehen. Erfolgreiche Wirtschaftsmodelle wie etwa in China, die der Orthodoxie der neomerkantilistischen Weltbankiere und ihren Interessen („Öffne andere Märkte und schließe den eigenen Hinterhof“) widersprechen, werden übersehen. Andere aufstrebende Weltmächte der Zukunft, wie Rußland und Indien, gehen in der Masse unter.

China hat durch protektionistische Politik nach Außen und Förderung der lokalen Produktion im Inneren, die niederwertige Importe ersetzte, ein extensives (faktorbe­ding­tes) Wirtschaftswachstum erzielt und ist auf dem Wege durch Technologie-Transfers auch ein intensives (produktivi­täts­bedingtes) Wachstum zu erreichen. Statt Schocktherapien wird Politik durch vorsichtiges Experimentieren schrittweise erarbeitet und umgesetzt - man überquert den Fluß, indem man die Steine abtastet. Die Entwicklungsländer, die den ortho­doxen Volkswirten des Westens folgten, erlitten dagegen Schiffbruch.

Der räumlichen Einengung gesellt sich noch eine zeitliche Beschränkung. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die heutigen Probleme und Argumente der Situation um 1930 ähneln. Damals konnte sich die Menschheit wenigstens noch damit entschuldigen, daß sie unvorbereitet auf den Schock der Massenarbeitslosigkeit getroffen wurde. Aber noch immer versteht man Arbeitslosigkeit nur als Problem, nicht als Chance (das vergrößerte Produktionspotential zu nutzen). Man schlägt überall gescheiterte Lösungen vor, wie eine Senkung der Lohnkosten. In einer Depression können aber Löhne gar nicht so tief fallen, daß ein Marktgleichgewicht wiederhergestellt wird. Von Preisenkungen - durch verstärkten Wettbewerb im eigenen Land und freien Welthandel - verspricht man sich mehr Kaufkraft. Sie erzeugen aber ein Null-Summen-Ergebnis: Den Überschuß des Verbrauchers verliert der Unternehmer an Gewinn. Diesen Verlust macht er durch niedrigere Arbeits­löhne wett, wenn er nicht in den Bankrott getrieben wird. Kostensenkungen durch Rationali­sierung können auch kaum die Kaufkraft erhöhen, wenn dabei Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet werden.

Diesselbe Ideologie, die in den dreißiger Jahren schon entwertet war, wird plötzlich hochmodern, zum Beispiel die Ansicht, daß Privatunternehmen unabhängig von ihrer Führung Staatsunternehmen im­mer überlegen sind. Und dieselbe Lustlosigkeit und Hiflosigkeit sowie das blinde Vertrauen auf die Kräfte des Marktes, der aber häufig versagt, breiten sich wieder aus. Wie in der Endphase der Weimarer Republik hört man nicht auf intelligente und kreative Stimmen. Diese werden dann von neuen beherzten Parteien und Persönlichkeiten aufgegriffen, die eine aktive Wirtschafts­politik verfolgen, Kompetenz in lebenswichtigen Bereichen demonstrieren und daher sogar von ihren Gegnern (wie vielen jüdischen Unternehmern im Dritten Reich) als einzige Hoffnung unterstützt werden.

Das Ziel von globalen Elitetreffs ist es, eine einheitliche Fiktion zu produzieren, die den Masken des Kapitalismus ein würdevolles Antlitz und die Aura der Verantwortungsbereitschaft verleiht. Diese ist dringend erforderlich, denn moderne Feudalherren verfügen durch ihre Kontrolle über das Geld faktisch uneingeschränkt über Arbeit. Sie besitzen mehr Macht als Lehnsherren, ohne moralische Verpflichtungen gegenüber ihren Leibeigenen. Denn die Rechte der Besitzenden sind juristisch abgesichert und Gefolgschaft baut auf Selbstinteresse auf, das die Medien verstärken, indem sie immer neue Wünsche wecken und kreieren. Rebellische Sklaven konnten dagegen noch auf „altmodische“ Ideen wie Freiheit und Gerechtigkeit kommen und gefährlich werden. Die heuti­gen Kartelle können selbst Steuern vom Volk eintreiben - durch Monopolpreise, die weit über dem Niveau einer Wettbewerbswirtschaft liegen.

Durch die zwölftonale Kakophonie der unsicheren Zeiten geht jedoch selbst fabrizierte Gewißheit verloren. Die Untertanen, eingenebelt von der Anti-Terror-Propaganda, werden die neue Wirtschaftsordnung kaum noch verstehen. Warum werden nicht Hunderte von Schulen und Krankenhäusern gebaut anstatt das sich am eigenen Leib abgesparte Geld in ei­ner einzigen ferngesteuerten Rakete, mit deren Finanzierung nicht lange gefackelt wird, buchstäblich zu verpulvern?

Der Staat muß die Führung ergreifen, wenn Privatinitiative versagt oder korrumpiert. Denn häufig ist das, was der Volkswirtschaft insgesamt nützt, nicht das, was ein gewinnorientierter Unternehmer aus eigenem Antrieb tun würde (auch wenn er im Endeffekt die Früchte genießt). Wenn die Natur keine Sprünge macht, dann muß man ihr eben auf die Sprünge helfen!

Kreative Problemlösung setzt die richtigen Fragen vo­raus. Anstatt über die Finanzierung von TerrorAusgaben nachzudenken, sollten fundamentale Wach­s­tums­treiber nachhal­tig verbessert werden. Den großen Fortschritten im produktiven Bereich muß ein fortschrittlicher Verteilungsapparat folgen, denn die Menschen haben nichts von einem größeren Kuchen, wenn sie ihn nicht essen können. Und Andersdenkenden, die vielleicht Recht haben, aber als Staatsfeinde und Weltverbrecher gelten, sollte mehr Freiheit und Toleranz geschenkt werden. Friede, Demut und Nächstenliebe, nicht Krieg, sind der beste Garant für wirt­schaftliche Stabilität und Prosperität. Der Krieg mag der Vater aller nachkommenden Dinge sein, aber unter seinen lebenden Kindern profitieren von ihm immer nur wenige. Und nur die schützt der Staat.

 

Dr. Kai-Alexander Schlevogt ist Wirtschaftswissenschaftler in Harvard und Oxford, erster ausländischer Professor an der Universität Peking und Unternehmensberater. Er ist Gründer und Präsident der Schlevogt Business School, der ersten Business School in privater Trägerschaft in Deutschland.


 
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