© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002

 
Zugewandert und sitzengeblieben
Bildungspolitik: Schlechte Resultate ausländischer Schüler bei der Pisa-Studie schrecken auf / Türkische Elternverbände fordern zweisprachige Erziehung
Matthias Bäkermann 

Die „defizitäre Lage“ der Migrantenkinder habe das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der Pisa-Studie maßgeblich beeinflußt . Dieses Resumee zieht der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Hakki Keskin. Besonders die schlechten sprachlichen Voraussetzungen der ausländischen, insbesondere türkischen Schulanfänger seien Schuld an dieser Misere.

Zwischen vierzig und siebzig Prozent der türkischen ABC-Schützen sprächen nach Untersuchungen in großstädtischen Vierteln mit einem überproportionalen Anteil ausländischer Bevölkerung nicht ausreichend Deutsch. So sei der Unterricht für diese Kinder während ihrer Grundschulzeit hauptsächlich durch einen deutschen Sprachunterricht geprägt, der die Vermittlung anderer Grundkenntnisse in den Hintergrund treten lasse. Diese Situation beeinflusse dann die gesamte schulische Laufbahn, an deren Ende doppelt so viele türkische Jugendliche, gemessen an ihren deutschen Mitschülern, ohne schulischen Abschluß dastünden, bei den Jungen 33 Prozent, bei Mädchen 21 Prozent. Die dadurch entstehenden sozialen Probleme verschärfen die Voraussetzung einer weiteren Assimilation in die bundesrepublikanische Gesellschaft maßgeblich - die dritte und vierte Generation der türkischen Einwanderer stünde schlechter da als ihre Altvorderen, die als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen sind.

Laut Statistik sind in Deutschland etwa 2,4 Millionen Menschen türkischer Herkunft gemeldet. Im Schuljahr 1998/99 besuchten über 500.000 Kinder dieser Minorität die deutschen Schulen. Als Reaktion auf die schon seit langen Jahren bestehenden Probleme im Bereich der Erziehung und Bildung hat sich 1995 die Föderation türkischer Elternvereine in Deutschland (Föted) gegründet, in der etwa 4.000 türkische Eltern organisiert sind. Der Vorsitzende Ertekin Özcal wies in einen Interview mit dem Fernsehsender Arte darauf hin, daß die Föted lange vor der Pisa-Studie Politiker und andere Verantwortliche im Bildungssektor auf die Probleme von Kindern mit türkischer Muttersprache aufmerksam gemacht habe. Die fehlenden infrastrukturellen Voraussetzungen im schulischen und vorschulischen Bereich sieht Özcal als gewichtigste Gründe für die Schwierigkeiten der türkischen Schüler. Seiner Ansicht nach würden die Herkunft und „multikulturelle Struktur“ der Kinder sowie deren Muttersprachen in den Bildungseinrichtungen nicht berücksichtigt. Er beklagt, daß Türkisch als Muttersprache in einigen Bundesländern lediglich als muttersprachlicher Ergänzungsunterricht angeboten würde und nicht als zeugnis- und versetzungsrelevantes Schulfach in den Rahmenplänen der Kultusbehörden aufgenommen wäre. Türkisch sollte nach seiner Vorstellung ab der ersten Klasse als versetzungsrelevantes Schulfach für alle Schüler und auf den Gymnasien als zweite Fremdsprache nach Englisch eingeführt werden. Besonders müsse jedoch die Sprachförderung im Kindergarten gefördert und zusammen mit Hausaufgabenhilfe und Nachhilfeunterricht öffentlich finanziert werden.

Die Praxis widerspricht den Forderungen des türkischen Elternvereinsvorsitzenden jedoch. Die Karl-Weise-Grundschule im Berliner Bezirk Neukölln, in dem der Anteil Türkischstämmiger besonders hoch ist, will den Versuch der deutsch-türkischen Alphabetisierung aufgeben. Hier war zuletzt das Interesse der deutschen Elternschaft zunehmend geschwunden, ihre Kindern in den zweisprachigen Kooperationsunterricht zu schicken. Aber auch die türkischen Eltern reagieren zurückhaltend auf das Angebot. Manche fürchten, daß sich die zusätzlichen Türkischstunden negativ auf den deutschen Spracherwerb auswirken könnten. Der Streit um den Türkischunterricht an der Karl-Weise-Schule erboste zudem die deutschen Eltern, die sich in Neukölln zunehmend in der Minderheit fühlen und in der „massiven Begegnung ihrer Kinder mit den türkischen Kindern“ in den zweisprachigen Unterrichtsklassen eine Struktur wahrnehmen, „zu der sie keinen Zugang haben“, wie Berlins Bildungssenator Klaus Böger (SPD) den Unmut zu erklären versuchte. An einer anderen Berliner Schule im Wedding sei das Projekt des zweisprachigen Unterrichtes bislang noch nicht gescheitert. Der ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften (GEW) und selbst als Schulleiter tätige Erhard Laube warnt allerdings davor, einzig auf die zweisprachige Alphabetisierung zu setzen. Entgegen der Furcht, daß Schulen mit Türkischunterricht als „Multikulti-Schule“ abgestempelt würden, setzt Laube weiter auf das zweisprachige Angebot, da er davon überzeugt ist, daß man eine neue Sprache leichter lernen könne, wenn man die Muttersprache richtig beherrsche. An der Karl-Weise-Grundschule ist das Projektversuch Türkischunterricht jedenfalls vom Tisch.

Die türkischen Elternverbände fordern mit Betrachtung der Pisa-Studie in ihrem Maßnahmenkatalog hauptsächlich staatliche Leistungen ein. Eine dirigistische Politik soll die bessere Grundlage einer sprachlichen Assimilierung bereitstellen. Der Aspekt der sprachlichen Erziehung im Elternhaus wird nur beiläufig erwähnt. Der Verweis auf die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen der türkischen Eltern, die hohe Arbeitslosigkeit besonders bei Frauen und die daraus resultierende soziale Abschottung, stünden laut Özcan bei dieser „sozial schwächsten Gruppe“ einer deutschen Spracherziehung entgegen. Besonders beklagt Özcan, daß viele türkische Eltern durch eigene sprachliche Barrieren nur unzureichend über das deutsche Schulsystem informiert seien. Außerdem sei das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und deutschen Lehrern oftmals gestört, da viele schulische Entscheidungen und der schulische Mißerfolg ihrer Kinder als aufgezwungen verstanden würden und die Kommunikation mit der Schule nur auf niedrigem Niveau stattfinde. Die Frequenz türkischer Eltern bei Elternabenden sei sehr gering.

Özcans These, die türkische Identität durch Festigung der sprachlichen und kulturellen Vermittlung des Türkischen ihrer „kognitiven und emotionalen Entwicklung“ auf die türkischen Kinder wegen in der Schule weiterzuentwickeln, wirkt in diesem Kontext eher kontraproduktiv. Sein Ansatz, bei den Türken Deutsch als „Zweitsprache“ erst mit der Vorschule zu entwickeln, stellt somit nichts anderes als die momentane Situation dar, die die Entwicklung einer schlechter ausgebildeten und sozial niedrig stehenden Parallelgesellschaft für die türkischstämmigen Mitbürger nicht aufzuhalten vermag.

Der Vorstoß des Vorsitzenden der CDU in Rheinland-Pfalz, Christoph Böhr, ausländische Schüler erst dann zur Schule zuzulassen, wenn sie die deutsche Sprache ausreichend beherrschten, würde dagegen in aller Konsequenz vielen ausländischen Kindern den Weg der Schulbildung verbauen und dürfte ebenso einer Assimilation in unsere Gesellschaft widersprechen.


 
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