© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002

 
Der ewige Spitzel
Verfassungsschutz I: Der Drang zum Denunzieren ist eine systemübergreifende Konstante / Literarische Vorbilder gibt es zuhauf
Doris Neujahr

Der Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen, der für die V-Mann-Affäre im NPD-Verbotsverfahren hauptverantwortlich ist, müht sich seit Jahren, diese Zeitung wegen „Rechtsextremismus“ anzuschwärzen. Weil ihre Artikel dafür nichts hergeben, reiht er in seinen Jahresberichten angebliche - die Schlapphüte behaupten: „tatsächliche“ - „Anhaltspunkte für den Verdacht“ aneinander. Auf die geklitterten Zitate und Verdächtigungen muß man nicht eingehen, sie sind närrisch. Formal folgen sie der Logik vom objektiven Gegner.

Das Vergehen des objektiven Gegners ergibt sich nicht aus seinen Taten, sondern aus den Begründungszwängen einer ideologisierten Politik. Wo der Rassismus zur Staatsdoktrin erhoben wird, ist der Gegner der Jude; im Antifaschismus werden die Verfechter des Antitotalitarismus als Abbilder des Bösen stigmatisiert, und wo es darum geht, etwas längst schon Gedachtes (wie die bürgerliche Republik) zugunsten des nicht mehr Geglaubten (wie das monarchische Gottesgnadentum) zurückzunehmen, identifiziert man als Feind den Intellektuellen.

Dieses Verfahren hat E. T. A. Hoffmann in seinem Märchen „Meister Floh“ (1820) modellhaft beschrieben. Hoffmann war damals Kammergerichtsrat in Berlin. Die Ermordung des Schriftstellers August Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand 1819 hatte ihn in der Meinung bestärkt, „daß dem hirngespenstischen Treiben einiger junger Strudelköpfe Schranken gesetzt werden mußten“, nur sollte das auf rechtsstaatlichem Wege und unter nachprüfbaren Kriterien erfolgen. Mit dieser Auffassung geriet er in Gegensatz zum Polizeidirektor Kamptz, der im Buch „Knarrpanti“ heißt.

Für Knarrpanti sind Studenten naturgesetzlich Verbrecher. „Auf die Erinnerung, daß doch eine Tat begangen sein müsse, wenn es einen Täter geben solle, meinte Knarrpanti, daß, sei erst der Täter ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst finde.“ Nur ein „oberflächlicher Richter“ sei nicht imstande, „dies und das hineinzuinquirieren, welches dem Angeklagten doch irgendeinen Makel“ anhänge. Als er im Tagebuch eines Verhafteten den Satz findet: „Heute war ich leider mordsfaul“, folgert er daraus, „ob wohl jemand verbrecherischere Gesinnung an den Tag legen könne, als wenn er bedauere, heute keinen Mord verübt zu haben“!

Knarrpanti ist die personifizierte Paranoia. Innerhalb seines Denkgebäudes ist ihm nicht beizukommen, denn niemand kennt sich darin so gut aus wie er selber. Auf die innere Beschaffenheit dieses Gedankenpolizisten und Zensors ist Hoffmann, damals schon schwer krank, nicht weiter eingegangen. Doch in der Titelfigur des Romans „Tallhover“ von Hans Joachim Schädlich erlebte Knarrpanti seine Transformation und Wiederauferstehung. Er wird als Prototyp des ewigen Spitzels geschildert.

Tallhovers Lebensweg beginnt 1819 und endet um 1955. Er ist ein reduzierter Charakter und Klassenpetzer. Er sieht seiner Mutter heimlich bei der Notdurft zu, hat keine Freunde und ist ein fanatischer Puzzlespieler. Beflissen, autoritär und ängstlich, fehlt ihm der Mut zum eigenständigen Leben. Gemäß der Dialektik von Ohnmachtsgefühlen und Allmachtsphantasien, zieht er seinen kargen Genuß daraus, das Leben anderer zu observieren, durch seine Allwissenheit zu beherrschen und zu manipulieren. Gerade erwachsen geworden, sucht er um „eine fruchtbare Tätigkeit bei der Kriminalpolizei“ nach. Die Spur seines Wirkens zieht sich vom Kölner Kommunistenprozeß 1852 über die Gestapo bis zur Stasi. Nach dem Ost-Berliner Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 sieht er sich an der Unmöglichkeit gescheitert, an der jeder Spitzel Schiffbruch erleidet: Er kann seinen Mitmenschen eben doch nicht in Herz und Hirn schauen und wird daher vom Gang der Geschichte immer wieder überrascht. In einem Verfahren, das an Kafka und an die Moskauer Monsterprozesse von 1936/38 erinnert, verlangt er für sich das Todesurteil. Seinen Tod will er als Opfer zur Perfektionierung des Systems verstanden wissen.

Als das Buch erschien, lag es nahe, diese Wendung als Antizipation des Untergangs des SED-Staates zu interpretieren. Schädlich war 1977 aus der DDR in die BRD gekommen. Heute muß man sich fragen, ob Tallhover - ein „IM“ und Führungsoffizier in Personalunion - in Wahrheit nicht eine weitere Metamorphose vorbereitete und tarnte. Der systemübergreifende Knarr-panti/Tallhover-Typ fühlt sich auch in modernen Demokratien pudelwohl. Er hat Honecker und Mielke überlebt und ist eher als alle anderen DDR-Bürger im Westen angekommen. Im Grunde war er schon immer da, nur wollte man ihn nicht bemerken. Der Drang zum Spitzeln und Denunzieren ist eine anthropologische Konstante, zu der sich in Zeiten leerer Kassen die Sorge um den Arbeitsplatz gesellt. Auch Verfassungsschützer haben Existenzangst und stehen unter dem Druck, ihre Daseinsberechtigung nachzuweisen.

Geheime VS-Operationen haben sich verselbständigt

Es liegt in der Natur solcher im Halbdunkel agierenden Behörden, daß in ihr Menschen mit besagten Eigenschaften überproportional vertreten sind. Das Wunder der Demokratie besteht gerade darin, daß sie mit den menschlichen Schwächen, mit Schäbigkeit, Angst, Egoismus, Denunziantentum ausdrücklich rechnet und deren Auswirkungen durch „ungeheuer komplizierte Abläufe und Passungen“ und einen „grandiosen und empfindlichen Organismus des Miteinander“ begrenzt, damit „die Menschen bei all ihrer Schlechtigkeit au fond so schwerelos aneinander vorbeikommen“ (Botho Strauß, „Bocksgesang“).

Inzwischen aber sieht es so aus, daß die Tallhovers und Knarrpantis die Instituitionen, von denen sie gebändigt werden sollen, erobert haben. Sie haben sich eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung ­- die schleichende Übernahme der DDR-Antifa-Ideologie - zunutze gemacht und aus Eigeninteresse weiter vorangetrieben. In der Folge ist der Inlandsgeheimdienst aus seiner dienenden Funktion herausgetreten und hat sich zu einem bestimmenden gesellschaftspolitischen Faktor gemausert. Seine klandestinen Operationen haben sich verselbständigt und hebeln die demokratische - und das heißt: öffentliche - Meinungs- und Willensbildung aus bzw. degradieren sie zur Kulisse. In der NPD-Pleite ist dieser Systemfehler außer Kontrolle geraten und eben dadurch sichtbar geworden.

Die Verbotsidee reifte nach verschiedenen Straftaten heran, die ungeklärt blieben oder von jungen Arabern begangen wurden. In einer Atmosphäre kollektiven Wahnsinns gewann die Debatte über die vorgebliche „faschistische Terroroffensive“ eine Eigendynamik, die die Beteiligten in die Überzeugung trieb, etwas Handfestes gegen den - wie man jetzt weiß - doppelt virtuellen Rechtsextremismus „zu tun“. Der Geheimdienst als Unterorgan der Exekutive (Bundes- und Landesregierungen) brachte diese dazu, die von ihm inszenierten Phantasmagorien als Fakten zu akzeptieren. Getäuscht wurde auch die Legislative (Bundestag und Bundesrat), und beide zusammen schickten sich an, die dritte, judikative Gewalt (Bundesverfassungsgericht) hinters Licht zu führen. Das nennt man wohl eine Krise der Institutionen! Es stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Klima, in dem so was möglich ist.

Dieses Klima ist gekennzeichnet durch den Totalausfall und die Korrumpierung der „vierten Gewalt“, der Medien. Es ist ein merkwürdiges Journalistenethos, das sich auf den Geheimdienst als höchste moralische Instanz beruft. Die linke Publizistik hatte ihre unbestrittene Größe einst im Kampf gegen den Obrigkeitsstaat gewonnen. Jetzt, da die Linke sich den Staat einverleibt hat, hat sie den Stock, mit dem er sie einst prügelte, gleich mit verschluckt.

In diesem Dunstkreis werden nicht nur die staatlichen Institutionen beschädigt, auch das gesellschaftliche, geistige, kulturelle und soziale Leben ist von einer Lähmung befallen. Ausländische Beobachter sehen das klarer als die Deutschen selbst. Der in den USA „an knallharte Debatten gewöhnte“ Germanist Mark M. Anderson schrieb im vergangenen Herbst in der Zeit, die Atmosphäre in Deutschland sei von „Konformismus, Befangenheit (...), betretenem Schweigen und sich selbst herabsetzendem Philosemitismus“ geprägt; wer eine abweichende Meinung vertrete, riskiere den „beruflichen und sozialen Selbstmord“.

Umgekehrt ist die berufliche und soziale Teilhabe nur gesichert durch die - zumindest stillschweigende - Perpetuierung des staatlichen Antifaschismus’, der die „faschistische Gefahr“ als Vorwand benötigt. Was wir erleben, ist eine „Agonie des Realen“, die der Medienwissenschaftler Jean Baudrillard anhand dreier zentraler Begriffe erläuterte: Erstens mit der „Simulation“ (in diesem Falle die „Gefahr von Rechts“), zweitens mit dem „Simulakrum“ (NPD), und drittens mit der „Dissumulation“, dem Verbergen und Verschleiern von realen Interessen. Ob der lautstarke Theaterdonner um die PDS auch deshalb ohne praktische Konsequenzen blieb, weil ihr rüder Internationalismus objektiv der wirksamste Flankenschutz für das ­- noch immer „rechts“ verortete - international operierende Finanzkapital ist?

Bei solchen Fragen wird das Dilemma jedes kritischen Beobachters deutlich: Einerseits spürt er die Gefahr, Verschwörungstheorien aufzusitzen, andererseits scheint seine Furcht davor, als Verschwörungstheoretiker zu gelten, zur Kalkulation der Simulatoren zu gehören.

Man sollte das Wissen über die stasizersetzte DDR ernst nehmen. Besuchern aus dem Westen fiel vor 1989 die Furcht ihrer Gastgeber vor versteckten Mikrofonen, verwanzten Telefonen, vor zensierter Post und unliebsamen Mithörern auf, was sie zu dem gutgemeinten Rat veranlaßte, bloß nicht in Verfolgungswahn zu verfallen. Bei den Angesprochenen führte das in der Tat zu Zweifeln über ihre Wirklichkeitswahrnehmung und zur autosuggestiven Einsicht, daß es so schlimm nicht sein könne. Subjektiv wurde ihr Verhältnis zum Staat dadurch entspannter, objektiv wurde damit die DDR stabilisiert. Am Ende stellte sich heraus, daß alles noch viel schlimmer war. Das Ergebnis der geheimdienstlichen Unterwanderung war die totale politische Paralysierung der Bevölkerung, die auch nach dem Ende des Regimes außerstande war, ihre Interessen adäquat zu formulieren und zu vertreten.

Ein Mindestmaß an Fairneß und Vertrauen

Im aktuellen Verfassungsschutzskandal geht es daher nicht einfach um ein paar größenwahnsinnige Beamte, die über die Stränge schlagen und zuviel Macht akkumulieren. Er führt zu der Frage, ob wir uns von den Hohepriestern im Halbschatten den Rahmen unseres sozialen Handelns nach Belieben einschränken und sogar zerstören lassen dürfen.

Weder in Politik noch Gesellschaft noch im zwischenmenschlichen Bereich geht es je ohne Konkurrenz, Tücke und Intrigen ab. Gerade deshalb müssen die Menschen sich sicher sein dürfen, in einer gemeinsamen Welt zu leben, in der ein Minimalkonsens über einsehbare, gültige Spielregeln und ein Mindestmaß an Fairneß und Vertrauen herrschen. Anders ist soziales Handeln, das Ineinandergreifen und Fortspinnen menschlicher Tätigkeiten, gar nicht möglich. Wo eine zweite, gleichsam unsichtbare Wirklichkeit die sichtbare überlagert, sie lächerlich und zunichte macht, werden die Menschen von Angst, Mißtrauen und Resignation über die eigene Vergeblichkeit beherrscht. Das ist das Gegenteil von Freiheit.

Die Freiheit wird heute weder von Neonazis noch vom „Hitler in uns“ effektiv bedroht, sondern von den Knarr-pantis und Tallhovers, den ewigen IMs und Führungsoffizieren, die uns häufig näher stehen und uns ähnlicher sind, als wir es wahrhaben wollen. Vielleicht ist der NPD-Skandal gerade noch rechtzeitig öffentlich geworden, um sie in die Schranken zu weisen.


 
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