© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002

 
Lauernder Schatten
Kino I: „From Hell“ von Allen und Albert Hughes
Werner Norden

Im Spätsommer und Frühherbst des Jahres 1888 geht in den Slums von Whitechapel im Londoner East End ein sich selbst als „Jack the Ripper“ bezeichnender Massenmörder seinem blasphemischen Handwerk nach. Sechs junge Prostituierte fallen ihm zwischen dem 7. August und dem 9. November zum Opfer. Inspektor Abberline (Johnny Depp) und sein Assistent (Robbie Coltrane) versuchen zunächst vergeblich dem Täter, dessen erstes Opfer nicht weniger als neununddreißig Stichwunden aufweist, auf die Spur zu kommen.

Zwar hat Abberline im Opiumrausch quälende Visionen, die den Killer bei seiner bluttriefenden Arbeit zeigen, aber das Gesicht des Mannes bleibt dabei merkwürdig konturenlos. Dennoch kommen die Polizisten, während die Londoner Dirnen im kalten Wind des frühen Novembers schaudern, schließlich einer Verschwörung auf die Spur, die bis in die höchsten Kreise der Königlichen Familie, in eine geheime Freimaurer-Loge und sogar in Scotland Yards „Special Branch“ reicht. Aber bevor der Inspektor endlich zuschlagen kann, entledigen sich die Verschwörer ihres auffällig gewordenen Logenbruders auf ihre Weise ...

„From Hell“ ist trotz gewisser genreüblicher Übertreibungen eher ein romantischer Horrorfilm. Dabei gehen die Brüder Hughes durchaus gradlinig, wenn auch mit unverhohlenem Rückgriff auf die naiven Vorbilder und Klassiker des Genres vor. Neben den Evergreens „Frankenstein“, „Dracula“ und „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ ist ja kaum ein Thema so oft verfilmt worden wie „Jack the Ripper“, der übrigens nie gefaßt wurde. Noch heute werden umfangreiche Bücher geschrieben, die endlose und bisweilen gewagte Theorien über die wahre Identität des „Rippers“ aufstellen, wobei der Film von der Version, daß dieser ein Mitglied des englischen Königshauses war, endgültig Abschied nimmt.

Durch die offensichtliche Authentizität der Hauptfigur, die Alltäglichkeit der Schauplätze und eine kompromißlose Dramaturgie des Todes vermittelt „From Hell“ einen Schrecken, dem sich der Zuschauer kaum entziehen kann. Das stimmungsvolle, fast überbordende Dekor mit dem quirligen Dunst des sprichwörtlichen Londoner Nebels und die typische viktorianisch-altenglische Atmosphäre, die mit ihren schmalen Gäßchen und echtem Kopfsteinpflaster den Charme der Jahrhundertwende ausstrahlen, verführen zu einer kindlichen Augenlust, die aus dem Staunen nicht herauskommen will.

Spätestens nach dem ersten harten Schnitt, wenn das Treppchen der Kutsche des Rippers mit hartem Schlag scheppernd und krachend ausfährt, wissen wir jedoch, daß wir dies nicht mehr naiv rezipieren dürfen. Der nächste Schnitt ist nämlich der eines Skalpells durch die Kehle einer jungen Frau …

Im Film der Highes-Brüder wirkt die Kulisse des nächtlichen Londons nie künstlich, vermittelt aber bildgewaltig eine Stimmung, die die viktorianische Gesellschaft mit ihrer asexuellen Bevormundung in einen direkten Zusammenhang mit den asozialen Praktiken der Logen, des Adels und der Geheimpolizei setzt. Abberline, den Johnny Depp mit der müden Resignation des Opiumrauchers und Absinthtrinkers glaubwürdig ausstattet, kann die Selbstzerstörung seiner Existenz letztlich nicht aufhalten. Während der „Ripper“ - von Ian Holm schnörkellos gespielt - seines sozialen Konnex beraubt, vom Schinder zum Geschundenen degradiert wird, wacht der Inspektor aus seinem letzten Rausch nicht mehr auf.

Das Horrorkino, das seine besten Effekte stets aus dem Reservoir realer Unsicherheit bezieht, bietet mit der pointierten „Ripper“-Variation „From Hell“ eine erstaunlich perfekte Arbeit, die nicht nur Fans des Genres faszinieren wird.


 
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