© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Ein Flächenbrand droht
Naher Osten: Im Heiligen Land eskaliert die Gewalt / Saudischer Friedensplan scheint chancenlos
Michael Wiesberg

Es war ein geschickter Schachzug des saudi-arabischen Kronprinzen Abdullah. Wenn Israel bereit sei, seine 1967 besetzten arabischen Gebiete aufzugeben, so der in der Folge viel diskutierte Vorschlag des Kronprinzen, dann werden sich die arabischen Staaten dazu bereitfinden, Israel als Nachbarn anzuerkennen und die Beziehungen zu normalisieren. Zur Erinnerung: Abdullahs Vorschläge, die jetzt als „saudischer Friedensplan“ die Runde machen, waren ursprünglich Grundlage des Nahost-Friedensprozesses nach dem Ende des Golfkrieges im Jahre 1991. Das Prinzip „Land für Frieden“ wurde vor zehn Jahren zur Basis für eine friedliche arabisch-israelische Koexistenz erklärt. Israel gibt seine Besatzung auf und darf dafür auf friedliche Beziehungen mit seinen arabischen Nachbarn hoffen. Die Palästinenser verzichten im Gegenzug auf große Teile ihres ursprünglichen Territoriums, um auf dem restlichen Gebiet, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen, einen eigenen Staat zu errichten.

An diese Ausgangslage des Jahres 1991 hat Abdullah nun wieder angeknüft und damit die Israelis unter erheblichen diplomatischen Zugzwang gesetzt. Ebenso Israels Schutzmacht, die USA, die unsicher auf die saudische Initiative reagiert haben. Kronprinz Abdullah hatte seine Vorschläge geschickt zunächst einem Journalisten der New York Times unterbreitet. US-Außenminister Colin Powell, der Abdullahs Vorstoß zunächst herunterzuspielen suchte, sprach zuletzt von einem „wichtigen Schritt“.

Der israelische Premierminister Scharon reagierte auf diesen „wichtigen Schritt“ auf seine Art. Israels Armee rückte Ende Februar auf das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland vor, um mutmaßlicher palästinensischer Terroristen habhaft zu werden. Mindestens sechs Palästinenser wurden bei dem Vorstoß getötet und 38 weitere verwundet Ein israelischer Armeesprecher sagte, der Vorstoß sei Teil der laufenden Aktion zur Vernichtung „terroristischer Zellen“ in dem Flüchtlingslager. Im Gaza-Streifen wurde Augenzeugen zufolge ein sieben Jahre alter Palästinenserjunge von israelischem Panzerfeuer getötet.

Augenzeugen berichteten, die israelische Armee sei vom Norden und Süden in das Lager eingedrungen. Ein Kampfhubschrauber habe den vorrückenden Soldaten mit Maschinengewehrfeuer Deckung gegeben. Von den Minaretten Dschenins wurde zu den Waffen gerufen. Bereits am Tag vor dem Vorstoß auf Dschenin hatte die israelische Armee nach palästinensischen Angaben bei ähnlichen Vorstößen in einem Randgebiet Dschenins und im Lager Balata bei Nablus mindestens 13 Palästinenser getötet. Insgesamt wurden bei den Kämpfen mit Palästinensern seit Donnerstag letzter Woche in Dschenin und Balata mindestens 20 Palästinenser getötet.

Aus Protest gegen die Besetzung hatte die palästinensische Autonomiebehörde am Freitagabend alle Kontakte zur israelischen Regierung ausgesetzt. Die Maßnahme solle solange in Kraft bleiben, bis Israel „seine zerstörerische Aggression“ gegen palästinensische Flüchtlingslager beendet habe. In einer Erklärung warf die Autonomiebehörde Israel „Staatsterrorismus“ vor. Das palästinensische Volk werde sich von der „monströsen Militärmaschinerie Israels nicht schwächen lassen“.

Die Uno-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson verurteilte das israelische Vorrücken in die Flüchtlingslager. Die Operationen verstießen gegen das Menschenrecht und das humanitäre Völkerrecht. Gemeinsam mit UN-Generalsekretär Kofi Annan fordere sie den sofortigen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den Lagern. Die französische Regierung schloß sich der Forderung an und sprach mit Blick auf das Vorrücken in Flüchtlingslager von einem „kriegerischen Akt“. Die Reaktion der militanten Palästinenser ließ nicht lange auf sich warten. Bei einem Feuerüberfall palästinensischer Extremisten auf eine Straßensperre der israelischen Armee im Westjordanland wurden Sonntagfrüh mindestens neun Israelis getötet und zahlreiche verletzt. Vorher kamen bei einer Bombenexplosion in Jerusalem mindestens zehn Israelis ums Leben. Etwa 40 Israelis, darunter viele Frauen, Kinder und Jugendliche, wurden zum Teil schwer verletzt.

Der Attentäter, der als orthodoxer Jude verkleidet gewesen sein soll, sprengte sich nach Augenzeugenberichten inmitten einer Menschenmenge in die Luft. Wer die einfache Logik Scharons kennt, der weiß, daß Israel auf diese Anschläge in den nächsten Tagen mit massiven Vergeltungsmaßnahmen reagieren wird.

Unterdessen wächst in Israel die Skepsis an Scharons Politik gegenüber den Palästinensern. Scharons Weg der Isolierung Arafats und des militärischen Niederhaltens der Intifada wird mehr und mehr in Frage gestellt. Diese Zweifel dürften vor dem Hintergrund der jüngsten Eskalation der Gewalt, der eine neuerliche Welle von Gewalt folgen wird, weiter wachsen.

Ein Ende dieser Gewaltspirale ist nicht abzusehen. Israels Kabinettssekretär Saar ließ nämlich bereits durchblicken, daß die Regierung Scharon nichts von Abdullahs Vorschlägen hält. In der saudischen Initiative sei ein positiver Trend auszumachen, so erklärte Saar lapidar, aber das bedeute keineswegs, daß Israel bereit sei, sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen: „Einem solchen Schritt würden wir niemals zustimmen.“

Unter Scharon, dies wird immer deutlicher, wird es im Nahen Osten keinen Frieden geben. Dessen Politik, die jede Kritik als „antisemitisch“ zu diffamieren sucht, läßt statt dessen einen umfassenden Flächenbrand im Nahen Osten befürchten. Einiges spricht dafür, daß Scharon auch eine Eskalation in Kauf zu nehmen bereit ist, um das Palästinenserproblem auf seine Weise lösen zu können.

Doch auch ein anderes Szenario ist denkbar: Der libysche Revolutionsführer Gaddhafi hat letzten Samstag in seiner Rede zum 25. Jahrestag der Gründung des libyschen Jamahiriya („Massenstaat“) den saudischen Friedensplan zurückgewiesen. Ein „Palästinenserländchen“ im Westjordanland und in Gaza könne die Massen dieses Volks gar nicht aufnehmen und sei der „Erpressung durch den übermächtigen jüdischen Nachbarn“ ausgesetzt. Oberst Gaddhafi schlug deshalb vor, die Araber sollten stattdessen Israel anerkennen, aber unter drei Bedingungen: Alle Palästinaflüchtlinge müßten in ihre Heimat zurückkehren können, Israel müsse seine Massenvernichtungswaffen demontieren, und anschließend sollten in dem neuen Staat freie und demokratische Wahlen unter internationaler Aufsicht stattfinden. Wegen der klaren arabischen Mehrheit würde das aber die Zerstörung Israels bedeuten.


 
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