© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Der böse Edvard will nicht sterben
Europa: In Prag und Preßburg werden die Benes-Dekrete kontrovers diskutiert
Alexander Barti

Am 16. Februar 2002 hielt Edmund Stoiber (CSU) auf dem 14. Partei-tag der regierenden Jungdemokraten (Fidesz) eine in Ungarn sehr beachtete Rede. Als kurze Zeit später der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sich gegen die Benes-Dekrete aussprach, herrschte große Aufregung in Europa. Handelt es sich um eine gezielte Provokation?

Es ist bemerkenswert, wie sich Ungarn aus der Schußlinie halten kann, wenn es um brisante Themen geht: Das tschechische Atomkraftwerk Temelín ist ein internationaler Störfall, während das kaum minder gefährliche AKW Paks südlich von Budapest kaum beachtet wird; während die Vertreibung der Sudetendeutschen immer wieder zu heftigen Reaktionen führt, ist die Vertreibung der Ungarndeutschen praktisch vergessen.

Der Vorstoß von Orbán, die Benes-Dekrete widersprächen den europäischen Werten, hat das Vertreibungsproblem auf die europäische Agenda gesetzt. Man scheint auch in London und Paris endlich begriffen zu haben, daß man nicht von einer europäischenWertegemeinschaft reden kann, solange man rassistische Gesetze zu dulden bereit ist.

Die russische Tageszeitung Iswestija sprach am 27. Februar von einer „politischen Geisterbeschwörung“, die Orbán veranstaltet habe, mit einer unerwartet heftigen Reaktion. Für Iswestija würde die Aufhebung der Benes-Dekrete die Tschechei und Slowakei mit einer Flut von Entschädigungsklagen konfrontieren; außerdem weist das Blatt darauf hin, daß auch die Siegermächte für die mitteleuropäische Tragödie verantwortlich seien, schließlich haben Stalin, Churchill und Truman auf der Potsdamer Konferenz 1945 den Benes-Dekrete nicht widersprochen.

Das Prager Blatt Lidové Noviny schreibt am 26. Februar, daß Orbán „trotz seines Populismus leider recht“ habe, wenn er die Benes-Dekrete verurteilt. Die Verfasserin des Kommentars, Petruska Sustrová, erlaubt sich außerdem den Hinweis, daß die Slowaken ihren ersten Staat Hitler verdanken; für die Kollaboration mit Nazi-Deutschland hätte man sie - gemäß der Benes-Logik - auch kollektiv bestrafen können.

Ebenfalls am 26. Februar schrieb die polnische Gazeta Wyborcza über den Konflikt, indem sie den ungarischen Publizisten Miklós Haraszti sagen läßt, Orbán wolle mit seiner „aggressiven Außenpolitik“ den rechten Rand der Wähler einbinden; die Botschaft sei also vornehmlich eine innenpolitische. Am 1. Märzt schaltete sich der slowakische Präsident Rudolf Schuster in die Debatte ein. Man müsse, so Schuster in einem Interview mit der tschechichen Právo, die Dekrete nicht widerrufen, sondern neu interpretieren und die unschuldigen Opfer um Verzeihung bitten.

In der gleichen Zeitung bemerkte am 26. Februar der tschechische Außenminister Jan Kavan, daß die Kooperation der sogenannten Visegrád-Gruppe (V4: Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien) durch Orbáns Meinung über die Dekrete nicht gefährdet sei; gleichwohl werde Prag immer heftig reagieren, wenn man die Dekrete abschaffen wolle.

Die in Preßburg erscheinende Zeitung der ungarischen Minderheit, Új Szó, vermutet ebenfalls wahltaktische Überlegungen hinter dem Orbán-Vorstoß. Davon abgesehen hätten die Benes-Dekrete weder in der EU noch in sonst einem Staat, der sich als demokratischer Rechtsstaat definiert, eine Berechtigung. Die slowakische Zeitung SME befürchtet am 26. Februar eine Radikalisierung des ungarisch-slowakischen Verhältnisses. Daß sich Vertreter der V4 nicht wie verabredet in Keszthely am Plattensee getroffen haben, löse keine Probleme, so SME, zum Dialog gäbe es keine Alternative.

Die Preßburger Pravda vom 27. Februar ist der Meinung, daß man bei der Beurteilung von Orbáns Äußerungen vergessen habe, daß sie „ein Gummiknochen“ für die ungarischen Wähler seien: „Viktor Orbán ist ein Nationalist, der sich genau ausrechnet, mit wieviel Demagogie er seine Wahlchancen erhöhen kann“. Für die Prager Mladá Fronta Dnes ist die ungarische Außenpolitik ein Zeichen erstarkten Selbstbewußtseins: Der Wahlkampf bringe es mit sich, daß Orbán während seiner Kampagne auf die V4 keine Rücksichten nehme - ob die Strategie zum Erfolg führen wird, sei nicht abzusehen, meinte Robert Svoboda am 26. Februar in der Dnes.

Tags darauf stand in der gleichen Zeitung, daß Orbán mit seiner Kritik im Recht sei. Jirí Pehe, Politologe und ehemaliger Berater von Präsident Václav Havel, bemerkt, daß die Dekrete natürlich noch wirksam seien; das tschechische Parlament müsse sich offiziell von den Benes-Dekreten distanzieren. Zudem hätte die Diplomatie die Aufgabe, mit Deutschland und Österreich eine Lösung zu finden, die die Entschädigungsklagen neutralisieren würde.


 
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