© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Eine Verfassung für das Europavolk
Europäische Union: Der EU-Konvent soll eine neue Etappe im „multinationalen Abenteuer Europa“ sein
Bernd-Thomas Ramb

Es tut sich was im Staate Postmark. Kaum ist die brisante Thematik der Beerdigung der D-Mark und der Euro-Geburt zu den Akten gelegt, besinnen sich Europas Politiker auf die bislang versäumten bis sträflich vernachlässigten Problemfelder der EU-Politik. Schließlich steht die Osterweiterung der Europäischen Union unmittelbar bevor, während die Nachwehen des Nizza-Vertrages mit der brüsken Ablehnung der dort erzielten Vereinbarungen durch die Irländer immer noch nicht verkraftet sind. Mit der nun tatsächlich verwirklichten Europäischen Einheitswährung verstärkt sich automatisch der Zwang zur politischen Union. Gemeinsame - genauer gesagt einheitliche - Politik in der EU bedarf vor allem effizienter Entscheidungsverfahren. Die bisherigen Entscheidungswege erweisen sich jedoch zunehmend als zu träge oder schlicht unpraktikabel. Immer schwieriger wird es, eine geschlossene Linie zu finden.

Dabei besteht die EU zur Zeit noch „nur“ aus 15 Staaten. Die vollständige institutionelle Lähmung ist nach dem Beitritt der zehn Kandidatenländer aus Mittel- und Osteuropa sowie Maltas und Zyperns vorprogrammiert. Die grundsätzliche Entscheidung über die künftigen Abstimmungsverfahren ist daher zum jetzigen Zeitpunkt immer noch wesentlich leichter zu erzielen als später - und noch lassen es sich die Kandidatenländer gefallen, in den auch sie betreffenden Entscheidungsprozeß nicht eingebunden zu sein.

Die aktuelle Reformdiskussion bestimmen im wesentlichen zwei Hauptauffassungen. Die eine möchte die EU-Kommission von Romani Prodi stärken, die andere den Europäischen Rat der Regierungschefs der EU-Länder. Für welche Variante sich auch entschieden wird, die andere Institution ist auf jeden Fall der große Verlierer. Eine Machtausweitung der Kommission schwächt den EU-Rat und umgekehrt.

Andererseits muß zwischen beiden Lösungsansätzen eine Entscheidung getroffen werden, wenn eine machtpolitisch sinnvolle Weiterentwicklung der EU erreicht werden soll. Beide Machtstrategien haben inzwischen auch ihre Interessenvertreter manifestiert. Im Falle der Machtausweitung des EU-Rats sind es der britische Premierminister Tony Blair und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem gemeinsamen Brief an die anderen EU-Regierungschefs, an den EU-Kommissionspräsidenten Prodi, den Hohen Beauftragten der EU für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Solana, und den Präsidenten des Konvents zur Reform der EU, Giscard d’Estaing. Letzterer sitzt der Gegenpartei vor.

Der Konvent aus 105 Delegierten der heutigen EU-Staaten, Repräsentanten des Europaparlaments und Vertretern der EU-Kommission soll, so der ehemalige französische Staatspräsident, eine neue Etappe im „multinationalen Abenteuer Europa“ einleiten und einen Verfassungsvertrag erarbeiten. Der deutsche Delegierte Peter Glotz (SPD) hat mit seiner Anmerkung, der Konvent sei „nicht an einer Schwächung der Kommission interessiert“, nicht nur auf den vorangegangenen Streit zwischen seinem Kanzler und der EU-Kommission im Rahmen des „Blauen Briefes“ abgehoben, sondern auch die Marschrichtung der Verfassung vorgezeichnet.

Will der Konvent seiner Zielsetzung eines Verfassungsentwurfs nicht diametral widersprechen, kann seine Grundlinie nur in einer Aufwertung des Europaparlaments zu einem Parlament des europäischen Volkes bestehen. Die Tatsache, daß im staatsrechtlichen Sinne kein europäisches Volk existiert, dürfte dabei zur quantité négligeable erklärt werden. Konsequenterweise wird damit die EU-Kommission zur europäischen Regierung befördert. In diese Richtung laufen auch die ersten Forderungen einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch das Europaparlament. Mit der Kreation eines Europavolkes gerät allerdings ein prekärer Umstand verschärft in das Blickfeld der Öffentlichkeit, die unterschiedliche demokratische Gewichtung der einzelnen Europäer. Schließlich ist das urdemokratische Prinzip „Jeder ist vor dem Gesetz gleich“ mit der Folgerung für das Wahlrecht „One man - one vote“ in Europa eklatant verletzt. So hat ein Deutscher oder ein Franzose nur einen Bruchteil der Stimmberechtigung eines Portugiesen oder Luxemburgers. Wenn Europa nicht zu einer Nationalklassengesellschaft degenerieren soll, muß im Rahmen der europäischen Verfassung vor allem dieser Mißstand beseitigt werden. Die kleinen EU-Staaten haben sich jedoch an diesen „Schutz“ vor den großen gewöhnt, werden also voraussehbaren Widerstand leisten.

Der Schröder-Blair-Vorschlag setzt an einer Reform des bisherigen Entscheidungsträgers in der EU, dem Rat der Regierungschefs der Länder an. Da die Einzelentscheidungen an Quantität und Brisanz in den letzen Jahren stark zugenommen haben, stellen sich die Ratssitzungen als immer langwieriger und mühsamer heraus. Zwar wurde das ursprüngliche europäische Abstimmungssystem der Einstimmigkeit seit dem Amsterdamer Vertrag abgeschafft, Mehrheitsentscheidungen gegen das Votum einer Minderheit werden jedoch nach wie vor möglichst vermieden. Statt dessen wird weiterhin so lange diskutiert, bis der Letzte überzeugt ist. Schröder und Blair wollen dies nicht nur abschaffen, sondern auch Diskussionen im Rahmen des Rates weitgehend vermeiden.

So sollen die untergeordneten Ministerräte zur Entscheidungsfindung innerhalb gesetzter Fristen verpflichtet werden und nicht wie bisher Unerledigtes an den EU-Rat weiterleiten. Überhaupt will der Rat mehr grundsätzliche Entscheidungen treffen und die Detailarbeit an die Ministerräte oder die Kommission delegieren. Dazu soll auch das System der „Tafelrunde“ aufgegeben werden, nach dem jedes auch noch so kleine Mitgliedsland eine mehr oder weniger langatmige Erklärung zu jedem Entscheidungspunkt abgeben konnte. Nun soll das Äußerungsrecht der Kleinen auf kurze schriftliche Statements beschränkt werden. Zwar ist auch im EU-Rat die Sitzverteilung asymmetrisch zu Ungunsten der großen Länder verzerrt, die drei großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien bilden jedoch eine unüberwindbare Stimmenbastion. Im Endeffekt läuft die Schröder-Blair-Reform damit auf eine Art Junta-System in der Europäischen Union hinaus.

Welche Stoßrichtung im Kampf der Reformsysteme auch gewinnen wird, die kleineren EU-Staaten werden in jedem Fall an Einfluß verlieren. Sie haben daher das geringste Interesse an einer Änderung des status quo. Die Macht der großen EU-Länder aber droht durch die Erweiterung der EU um durchweg kleine Staaten durchschlagend geschwächt zu werden. Aus ihrer Sicht eilt es also mit der Reform. Da Verfassungskonvente eher zur Langatmigkeit neigen, dürfte eine Lösung à la Schröder-Blair die größeren Realisierungschancen haben. Die Diskussion der europäischen Verfassung dürfte sich dagegen eher zum running gag entwickeln, der immer mal wieder in den Medien herumgeistert.


 
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