© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Den Drachen angehen
Jens Jessen und Adam von Trott zu Solz: Zwei intellektuelle Biographien als Beiträge zur Widerstandsgeschichte
Jürgen Neumann

Mit einiger Ubertreibung könnte man behaupten, daß bis in die siebziger Jahre hinein Forschungen zur Geschichte des Widerstandes gegen Hitler darauf gerichtet waren, Material für die rituellen Festreden zum 20. Juli zu liefern. Westdeutsch konditioniertes Verwertungsinteresse konzentrierte sich deswegen auf den „bürgerlichen“ oder „nationalkonservativen“ Widerstand der administrativ-diplomatischen Elite um Goerdeler, Popitz, von Hassell, der Militärs um Stauffenberg und Tresckow sowie „staatskirchlichen“ Opponenten vom Schlage Niemöllers und Gerstenmaiers.

Die sozialhistorische Dimension, der „Widerstand der kleinen Leute“ als Teil der „Alltagsgeschichte“ des Dritten Reiches, erschloß sich erst in den achtziger Jahren, als sich die Reihen der Zeitzeugen aus diesem Milieu schon zu lichten begannen. Heftige Kontroversen flammten kurz vor dem Zusammenbruch der DDR auf, als die Berliner „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ unter Leitung des Politologen Peter Steinbach den konstruktiven Dialog mit SED-Historikern suchte, um die „ganze Breite des Widerstandes“ zu entdecken, und damit auch die landesverräterische „Rote Kapelle“ und das moskauhörige „Nationalkomitee Freies Deutschland“ neben Deserteuren, Homosexuellen, Swingtänzern und Schwarzhörern in den Nebel des „Widerständigen“ zu rücken. Seitdem sind noch einmal zehn Jahre ins Land gegangen, und inzwischen dürfte es kaum noch einen Ort zwischen Lörrach und Zinnowitz geben, der seinen „antifaschistischen“ Helden nicht in einer Ortschronik gefeiert hätte. Jedoch hat die Zäsur des Mauerfalls die ursprünglich mit diesem Segment politisierter Zeitgeschichte verknüpften Hoffnungen auf linke Traditionsstiftung letztlich zunichte gemacht.

Darum ist es wohl kaum ein Zufall, wenn der geschmähte „bürgerliche“ Widerstand sukzessive wieder Neugierige anzieht, die sich von den Festrednern früherer Zeiten aber deutlich unterscheiden. Jetzt entstehen detailierte, nicht mehr politischen Tagesanforderungen verpflichtete Studien mit geistesgeschichtlicher Tendenz, die sich aus der einst üblichen Verengung auf die kurze Zeit der „Konspiration“ zwischen 1940 und 1944 befreien. Statt dessen werden weltanschauliche Dispositionen, politische Einflüsse und gesellschaftliche Prägungen des jeweiligen „Helden“ bis tief in die Zeit der Weimarer Republik rekonstruiert. Hier mündet die Geschichte des NS-Widerstands in die Bildungsgeschichte der deutschen „Funktionseliten“. Die Monographien von Andreas Schott über den außenpolitisch ambitionierten Juristen Adam Trott zu Solz (1909-1944) und von Regina Schlüter-Ahrens über den Nationalökonomen Jens Jessen (1895-1944) gehören in dieses Genre intellektueller biographischer Literatur.

Man sollte meinen, daß es über diese zwei Zentralfiguren des Widerstands nur noch wenig zu sagen gibt. Tatsächlich liegen über Jessen, der als „guter Hasser“ (Paul Fechter) früh zu den entschiedensten Verfechtern eines Adolf Hitlers Tötung einkalkulierenden Staatsstreichs zählte, eine Reihe biographischer Miniaturen vor. Über Trott, dem es nach einem geglückten Attentat oblegen hätte, als Staatssekretär im Auswärtigen Amt mit den Westmächten zu verhandeln, scheint man in den umfangreichen Biographien von Christopher Sykes (1968), Henry O. Malone (1986) und Giles MacDonogh (1989) alles zu erfahren.

Und doch können Schlüter-Ahrens und Schott mit ihren Hamburger Dissertationen Neuland betreten. Schlüter-Ahrens konzentriert sich dabei auf einen Aspekt in Jessens Biographie, der von der zeithistorisch ausgerichteten Widerstandsforschung bislang überhaupt nicht beachtet wurde: den Standort des Nationalökonomen im Kontext der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen seiner Zeit. Unter dieser neuen, wissenschaftshistorischen Fragestellung relativiert die Autorin die tradierte Zuordnung Jessens zum „nationalkonservativen“, auf „autoritäre“ Alternativen zum NS-Regime fixierten Widerstand, also zur Gruppe um Popitz und von Hassell, denen nicht nur von Hans Mommsen weltanschauliche „Affinität“ zum Nationalsozialismus unterstellt wird. Als ein vom „positiven Kriegserlebnis“ (Ernst Nolte) geprägter Angehöriger der „Frontgeneration“ hat sich Jessen selbst lange verstehen wollen, und als solcher hat er Ende der zwanziger Jahre Anschluß an die NS-Bewegung gesucht. Bei dem Nordschleswiger vertiefte sich diese Prägung einerseits durch das Erlebnis des „Grenzkampfes“ in seiner vom Versailler Diktat betroffenen Heimat, andererseits durch seine akademische Sozialisation. Leider deutet Schlüter-Ahrens nur an, wie die deutsche Volkswirtschaftslehre auf die chronische Krise des Kapitalismus reagierte. Denn nicht spezifisch anti-westliche Überlieferungen nationalökonomischer Kapitalismuskritik, sondern eher die katastrophische Eskalation seit dem „Schwarzen Freitag“ im Oktober 1929 macht Schlüter-Ahrens für Jessens Einschätzung verantwortlich, daß das „Zeitalter der Weltwirtschaft“ zu Ende gehe und die Zukunft wenn nicht der Autarkie, dann doch der politisch ökonomischen Autonomie von Großwirtschaftsräumen gehöre. Wer von hier den Bogen schlägt zu Jessens Beiträgen zur „neuen Volkswirtschaftslehre“ nach 1933 oder zu seinen Ideen zur Außenwirtschaftspolitik des „Reichsmarksblocks“, gerät leicht in die Versuchung, Jessen zum maßgeblichen NS-Wirtschaftstheoretiker zu stilisieren. Weniger anhand der versprochenen Einordnung in die Diskussionen seiner Fachgenossen, als aus der - sich leider oft in hilflos wirkenden Inhaltsreferaten erschöpfenden - Beschäftigung mit seinen Schriften gewinnt Schlüter-Ahrens aber ein sehr viel differenzierteres Bild. Sie siedelt Jessen zwischen einem naturrechtlich-individualistisch begründeten Liberalismus und einem staatssozialistischen Kollektivismus an. Seine letztlich doch liberale, wenn auch ordnungspolitisch abgestützte Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption, der es stets um die „Bewahrung der Persönlichkeit“ gegangen sei, habe Jessen anti-totalitaristisch festgelegt. Mit einer gewissen Konsequenz trieben ihn diese theoretischen Grundüberzeugungen dann in die Opposition - zunächst zum Interventionismus der NS-Planwirtschaft, ihrer mit Devisen- und Rohstoffbewirtschaftung, Festpreissystem und Zinsstop einhergehenden Staatsverschuldung - und schließlich, nach 1939, zur Kritik an der vom Berliner Imperialismus diktierten Neuordnung des europäischen „Großwirtschaftsraums“. Das Spektrum der wirtschaftspolitischen Vorstellungen Jessens weist also insgesamt nur kleine Schnittmengen mit NS-ldeen auf. Schlüter-Ahrens’ Arbeit korrigiert somit nachhaltig jene plakativen Bilder vom konservativen Widerstand, denen es primär darum geht, die Distanz zu Hitler und Himmler zu verkleinern - auch um den Preis historiographischer Solidität.

Bei Trott zu Solz sind Zeithistorikern solche Distanzverkürzungen wesentlich schwerer gefallen als bei Jessen. Dem hessischen Ministersohn blieben die „Stahlgewitter“ des Ersten Weltkrieges erspart. Statt in jungkonservativen Zirkeln hielt sich der Rhodes-Stipendiat lieber unter britischen Kommilitonen in Oxford auf, und mit der NSDAP hat er keine Sekunde irgendwelche politischen Erwartungen verbunden. Trotzdem genügte Trotts intensive Jünger-Lektüre, seine langjährige Beschäftigung mit dem preußischen Staatsdenker Hegel sowie unklare Sympathien für den Sozialismus, um aus ihm einen Parteigänger der „Konservativen Revolution“ (KR) zu machen.

Die stärksten Kapitel der Arbeit von Schott sind jene, die anhand des im Koblenzer Bundesarchiv verwahrten Nachlasses diese simplifizierende Zuordnung revidieren. Daß Schott mit Hilfe von Kurt Sontheimers grobschlächtigen Bestimmungen des „antidemokratischen Denkens“ die KR verdunkelt, um den „Demokraten“ Trott um so heller leuchten zu lassen, mag störend wirken. Doch dessen Nähe zum westlich-liberalen „Freiheits- und Demokratiebegriff“ tritt quellennah aus Briefen, nachgelassenen Entwürfen und veröffentlichten Texten unbestreitbar zu Tage. Auch ein „geläuterter“ Ernst Jünger konnte darum nach ergebnislosen Treffen mit Trott 1942/43 nur wechselseitige Fremdheit dokumentieren: „Die wollen den Drachen angehen und erwarten die Legitimation von Dir.“

Gleichwohl widersteht Schott der Gefahr, aus Trott eine Art Blutzeugen des Grundgesetzes zu machen. Trott sei kein Neokonservativer gewesen, aber deswegen noch lange kein kritikloser Lobredner des westlichen Demokratiemodells. Zum Beweis dafür zitiert Schott nicht die hinlänglich bekannte Programmatik des „Kreisauer Kreises“ - dem er ungeachtet des Untertitels seiner Arbeit ohnehin nur relativ wenig Raum gibt - sondern Briefe und Nachlaßpapiere, in denen Trott das „Freibeutersystem“ des „schrankenlosen Kapitalismus“ und die „bedenklichen Auswirkungen eines liberalistischen Systems für die sozialen Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten“ ins Visier nimmt. Deswegen sprach Trott auch englischen Freunden das Recht ab, auf der Basis ihres eigenen inhumanen Systems moralische Kritik an den deutschen Verhältnissen zu üben.

Daß seine Arbeit, wie Schott im Vorwort beklagt, nicht „sämtliche Widersprüche“ auflöst, ist kein Manko. Das eigentliche Verdienst der Studien von Schlüter-Ahrens und Schott besteht vielmehr im Aufzeigen jener Widersprüche, die sich nicht in „nationalkonservative“ Schablonen pressen lassen.

 

Regina Schlüter-Ahrens: Der Volkswirt Jens Jessen. Leben und Werk. Metropolis Verlag, Marburg 2001, 256 Seiten, 34,80 Euro

Andreas Schott: Adam von Trott zu Solz: Jurist im Widerstand. Verfassungsrechtliche und staatspolitische Auffassungen im Kreisauer Kreis. Schöningh Verlag, Paderborn 2001, 229 Seiten, 25,40 Euro


 
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