© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Zollschranken für Wählerstimmen
Handelspolitik: Gegen die von den USA angekündigte Erhöhung der Stahlzölle formiert sich eine weltweite Allianz
Ronald Gläser

Eine Stadtrundfahrt durch diese Metropole sagt alles. Früher war Detroit das Zentrum der größten Industrienation der Erde. Heute erinnert einiges an Beirut. Die Stadt in Michigan ist inzwischen ein Paradebeispiel für Deindustrialisierung. Hier, rund um die Großen Seen im Nordosten, war die Schwerindustrie Amerikas beheimatet. Eine Mischung aus Standortproblemen und Sarkasmus brachten diesem „Frostgürtel“ den Namen „Rostgürtel“ ein.

Der Wirtschaftsboom in den Clintonjahren verdeckte die Krise, in der sich das Herzstück der US-Wirtschaft befand. Minderwertige Arbeitsplätze sicherten zumindest die Existenzgrundlage unterer und mittlerer Einkommensklassen. Angesichts der Konjunkturflaute aber ist die Substanz der US-Wirtschaft bedroht. Die Krise der Stahlindustrie begann vor drei Jahren. Billige Importe drückten den Stahlpreis binnen eines Jahres um zwanzig Prozent. Inzwischen sind sie mehr als dreißig Prozent gefallen. Eine Konkurswelle fegte dreißig große Firmen und fünfzig Fabriken hinweg. Die Zahl der Entlassungen explodierte. Im Januar verloren fast 10.000 Stahlarbeiter ihre Beschäftigung.

Weitere 325.000 Arbeitsplätze standen auf dem Spiel. Arbeitgeber und Arbeitnehmer flehten um Schritte gegen die ausländische Konkurrenz. Die Bush-Regierung mußte - zumal imKongreß-Wahljahr - Maßnahmen gegen die jährlich dreißig Millionen Tonnen Importstahl ergreifen. Für Stahl wird ab dem 20. März zwischen acht bis dreißig Prozent Zoll verlangt. Halbfabrikate wurden mit Strafzöllen ab einer bestimmten Menge belegt. Hochwertigen Stahlerzeugnissen droht dagegen die höchste Gebühr.

Diese Entscheidung stieß auf weltweite Empörung. Kritik üben natürlich die betroffenen Exportstaaten. Betroffen von dieser Maßnahme sind in erster Linie die EU-Staaten Deutschland und Frankreich. Auch Brasilien, Japan, Südkorea und China müssen mit sinkenden Exporten rechnen. Rußland schließlich kalkuliert sogar mit 500 Millionen Euro Verlust. Moskau verhing als Gegenmaßnahme ein Einfuhrverbot für Geflügel aus den USA.

Prompt wandten sich auch Präsident Chirac und Kanzler Schröder gegen den „inakzeptablen“ Schritt Washingtons. Die EU verfügt über einen Handelsüberschuß, der 2001 fast fünfzig Milliarden Dollar ausmachte.

Der EU-Handelskommisar Pascal Lamy warf dem US-Präsidenten dennoch „Wild-West-Methoden“ vor. Neben sinkenden Erlösen fürchtet Brüssel jetzt, mit dem Stahl überschwemmt zu werden, der nicht mehr in die USA verschifft wird. Gemeinsam mit China wurde Beschwerde bei der WTO eingelegt. Supachai Panitchpakdi, der künftige Direktor der Welthandelsorganisation, warnte vor einem Handelskrieg und kündigte schnelle Verhandlungen an. Das internationale Gremium arbeitet jedoch so langsam, daß ein Sieg der Europäer erst nach Auslaufen der Bestimmungen erreicht sein dürfte.

Presse und Fernsehen stehen den Politikern in nichts nach. Von Bequemlichkeit über Unvernunft bis zur Unfähigkeit werfen sie Amerikas Regierung und Wirtschaft alles mögliche vor. Eine „Gesundschrumpfung“ werde nur hinausgezögert, heißt es in den Kommentarspalten von Stockholm bis Seoul.

Die Londoner Times sieht in der Zollverordnung einen „unvernünftigen Regelverstoß“. Die französische Le Monde wirft George W. Bush gar vor, gegen die Interessen seines eigenen Landes zu handeln. Protektionismus kenne immer nur Verlierer.

Entsetzt reagiert aber auch die eigene, die amerikanische Elite. Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, Zeitungsredakteure und Lobbyisten - sie alle reagierten verständnislos. Die drei großen Zeitungen, New York Times, Washington Post und Los Angeles Times predigen den Freihandel. Sie lassen nur die Argumente der Konkurrenten ihres eigenen Landes gelten. Die Financial Times befürchtet sogar eine „Trendwende in der Handelspolitik“.

Einfuhrbeschränkungen für Stahl sind in den USA nicht neu. Schutzzölle haben das Land zur größten Industrienation der Erde werden lassen. Während des 19. Jahrhunderts sicherten sie die junge Industrie vor britischen Konkurrenten. Damals bezeichnete Senator William Kelley Stahl und Eisen als „die Muskeln unserer modernen Zivilisation.“ Wer Stahl und Eisen importiere, sei wirtschaftlich abhängig und politisch nicht souverän.

Die Branche selbst reagierte dankbar auf die Zollentscheidung. Der angeschlagene Marktführer US Steel Corporation kündigte neue Investitionen und Umstrukturierungen an. Und die Gewerkschaft der Stahlarbeiter (USWA) drückte ihre Hoffnung auf eine Wende aus. Auch einige Vertreter der politischen Rechten schlossen sich an. Präsident Bush, lobte der konservative Verein „The American Cause“, habe eine „tapfere Entscheidung“ getroffen.

Der Freihandel hat in der Stahlindustrie die größten Breschen geschlagen. In den achtziger Jahren verlor die Gewerkschaft der Stahlarbeiter eine halbe Million Mitglieder - mehr als jede andere Gewerkschaft. Die neu entstehende Informationsgesellschaft dezimiert die Lebensgrundlage derjenigen, die der Wissenselite nicht angehören. Ihnen bleiben die als Erwerbsquelle oftmals weniger einträglichen Dienstleistungsjobs. Der Anteil aller Gehälter am Bruttosozialprodukt ist von 1970 bis 1994 von 44 auf 34 Prozent gesunken.

Auch die verarbeitende Industrie liegt in manchen Bereichen am Boden. Amerikaner benutzen Radios oder Videorekorder, ohne selber welche zu produzieren. So entstand das alljährliche Handelsbilanzdefizit, das 2001 300 Milliarden Dollar erreichte. In der Summe flossen seit 1980 drei Billionen Dollar für Importe ins Ausland, die momentane Dollarstärke ist politisch, nicht ökonomisch bedingt.

Zollschranken hatten oftmals den Effekt, daß sie die eigene Wirtschaftskraft zu entfalten halfen. Deutschland und den USA gelang es dadurch, im 19. Jahrhundert England als Industrienation vom Thron zu stoßen. Einfuhrverbote und staatlich gelenkte Investitionen (Stichwort: Miti) haben in der Nachkriegszeit die japanische Stahlindustrie entstehen lassen. Heute produziert Nippon weit mehr Stahl als die USA.

Die westlichen Eliten, allen voran die amerikanische, haben sich einzig dem Freihandel verschrieben. Dieses Dogma versperrt den Blick auf die zum Teil schädlichen Folgen für die eigene Volkswirtschaft. „Freihandel“ ist fast eine Art Ersatz für die Maofibel der 68er Generation geworden. Für Joseph Wharton, ein Stahlfabrikant im 19. Jahrhundert, war Freihandel dagegen eine „Krankheit, die ein gesunder Staat nicht tolerieren“ dürfe. Es kommt noch hinzu, daß der Handel frei, aber nicht gleich ist. Die US-Industrie ist in Privatbesitz. Sie konkurriert zu achtzig Prozent mit staatlichen oder staatlich erheblich subventionierten Anbietern.

Die Handelspolitik der vergangenen US-Regierung war das große Paradoxon der Weltpolitik. Ein Land, das militärisch und politisch nach einer dominierenden Stellung strebt, akzeptiert stillschweigend den Ausverkauf seiner Volkswirtschaft. Insofern läßt dieser Schritt von George Bush jun. die Annahme zu, daß dieser sich von der „Neuen Weltordnung“ verabschiedet. Diese hat dem Land ja auch politisch und militärisch mehr Schaden als Nutzen gebracht. Ein vernünftiger Partner schließlich ist auch für Europa wertvoller als entgangene Exporterlöse.


 
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