© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Der Goethe des zwanzigsten Jahrhunderts
Der neueste Versuch Helmut Koopmanns, ein Handbuch über Thomas Mann zu konzipieren
Wolfgang Saur

Anfang der zwanziger Jahre fanden zwei Männer sich in einem Häuschen unweit von Davos zu dem erstaunlichsten Rendezvous der Weltliteratur ein. Thomas Mann führt dort seinen Helden, Hans Castorp, und dessen Vetter im Kapitel „Vom Gottesstaat und von übler Erlösung“ mit zwei weiteren Hauptfiguren seines „Zauberberg“, dem Zeitphilosophen Naphta und dem Italiener Settembrini, zusammen.

Diese beiden Exponenten kraß widerstreitender Weltanschauungen sind es vor allem, die das tiefgründige Buch zu einem Ideenroman machen und es dem Autor ermöglichen, philosophische Kontroversen, Perspektiven der Weltpolitik und existenzielle Grundfragen des modernen Menschen vor dem Hintergrund von Weltkrieg, Zeitenwende und Nihilismus durchzuspielen und eschatologisch zuzuspitzen. Nicht nur die Abgelebtheit des bürgerlichen Liberalismus und Individualismus werden an der Figur des naiv-dogmatischen Moraltrompeters Settembrini gnadenlos demonstriert, vielmehr verschmilzt Mann im Fall des düsteren Naphta alte Traditions- und aktuelle Ideologieelemente auf faszinierende Weise zu einer chiliastisch-revolutionären Position, welche ein spiritualisiertes Proletariat zum apokalyptischen Träger zukünftiger Diktatur ausruft. Das prunkvolle Ambiente desLouis-Quinze-Zimmer des antikapitalistischen Asketen und konservativen Revolutionärs erzeugt einen schrillen Kontrast zum bourgeoisen juste milieu und einen ästhetischen Bruch mit den künstlerischen Darstellungskonventionen der Neuzeit, symbolisiert jedoch als expressive Metapher gerade den utopischen Geistidealismus und religiösen Triumphalismus des Metaphysikers Naphta. Kein Wunder, daß sich bei der Quellenrekonstruktion des Romans Schriften zur „mittelalterlichen Weltanschauung“ ebenso finden wie zur Aufklärung, und auch der „Aufruf zum Sozialismus“ des Anarchisten Gustav Landauer (1919) floß ein. Doch nicht eine pedantische Kompilation, sondern die kreative, „alchimistische“ Umgestaltung unzähliger Erfahrungen und Beobachtungen ließen die späteren Romane zu „Meisterwerken synkretistischer Beziehungskunst“ (Heftrich) werden. Diese ästhetische Komplexität hat die germanistische Forschung stets fasziniert. Parallel zum mythischen Wachstum Manns als dem überragenden deutschen Klassiker der Moderne hat sie sich einer exzessiven Produktion ergeben, die den „Goethe des XX. Jahrhunderts“ zum ausgeforschtesten Dichter seiner Zeit machte. Unübersehbar die gelehrten Erzeugnisse des akademischen Betriebs seit Jahrzehnten, die Thomas-Mann-Forschung: ein System für sich mit zahllosen Einzeldisziplinen. Sie hat das poetische Universum seines Werkes zwar sukzessive erschlossen, gleichzeitig jedoch auch entrückt durch den Aufweis widerspruchsvoller Vielschichtigkeit und des Facettenreichtums seines Autors.

Dieser Situation entspringt das Bedürfnis nach einem Ariadnefaden: „Das Wissen unserer Zeit über Leben, Werk und Wirken Thomas Manns so umfassend wie möglich zu präsentieren“, wie der Herausgeber des neuen Thomas-Mann-Handbuches, Helmut Koopmann, betont. Das wesentlich erweiterte und aktualisierte Opus ersetzt bescheidenere Vorläufer und reiht sich ein unter die glanzvollen Paralleltitel wie die Handbücher zu Shakespeare oder zur Romantik. Wie diese synthetisiert es sämtliche Forschungsfelder. Fachleute stellen Hauptaspekte von Biographie, Politik, Werk und Geistesgeschichte vor. Die gut lesbaren Aufsätze entfalten „polyperspektivisch“ einen umfassenden Deutungskosmos und halten dabei die Waage zwischen Einführungsessay, Fachbeitrag und Forschungsbericht.

Auf biographische Grundorientierungen folgen das Verhältnis Manns zu der literarischen Tradition und sämtlichen europäischen Literaturen, dann zur Philosophie, Psychologie, Mythologie und zum Christentum. Der mittlere Hauptteil beackert das gesamte dichterische wie essayistische Werk bis hin zu den Tagebüchern, Editionen und Verfilmungen. Im Block „Ästhetik“ werden das Realismus-Problem, Humor und Ironie, schließlich die Sprachform Manns (Kategorien wie Manier, Fülle, Grenzüberschreitung und Kompositionsprinzipien wie universale Zitier- und Montagetechnik) untersucht; die letzten 130 Seiten analysieren die Wirkungsgeschichte in Literaturkritik und Wissenschaft.

Thomas Mann zu lesen, ist nicht immer erfreulich. Abstoßend wirken oft der extreme Manierismus seiner künstlerischen Ausdrucksform, die „affenhafte Verliebtheit in den selbstgemachten Ziericht“ (Rühmkorf) und kompositorischen Protzereien, entnervend der obsessive Autismus oder die Manie, transzendente Wesenheiten psychologisch auszudünnen. Der pädagogische Ehrgeiz ist ärgerlich, trotz seines geringen politischen Urteilsvermögens als Herold der Verwestlichung an deren Glaubensgeschichte zu stricken, um schließlich einem denkfaulen Establishment heute die Politikone eines inbrünstigen Konvertiten zu hinterlassen. Mit fanatischen Subjektivismen und närrischen Verzeichnungen hat dieser grand old man der Literatur auch zu manch üblen Konfusionen angestiftet, wie etwa der verheerenden Mißdeutung der deutschen Romantik in der Nachkriegszeit. Trotz allem bleibt sein Werk ein bewunderungswürdiges Denkmal künstlerisch-herkulischen Strebens nach Totalität im Zeitalter „transzendentaler Obdachlosigkeit“: Der philosophische Eifer einer mythischen Erzählweise, die, indem sie Zeitebenen und Bedeutungsstrukturen miteinander verschmilzt, in ihrer universalen Beziehungsdynamik weiß, daß die Wahrheit nur das Ganze sein kann.

Helmut Koopmann, Hrsg.: Thomas-Mann-Handbuch. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2001, 1036 Seiten, 40 Euro


 
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