© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Von Sparta bis Potsdam
Eberhard Wagemanns Betrachtungen über „Verteidigung und Verfassung in Europa“
Wolfgang Müller

Vom Lebenswerk Otto Hintzes (1861-1940), eines großen Außenseiters unter den Historikern seiner Zeit, ist - trotz der kaum zwanzig Jahre alten Anstrengungen um seine „Wiederentdeckung“ - fast nichts in Erinnerung geblieben. Nur soviel vielleicht, daß man mit dem Namen des Hohenzollern-Historiographen ein am Beispiel Preußen demonstriertes „Gesetz“ assoziiert.

Demnach soll das Maß innerer Freiheit eines Staates vom außenpolitischen Druck auf seine Grenzen abhängig sein: Je größer die Zahl potentieller Feinde, desto kleiner die individuelle Bewegungsfreiheit seiner Bürger. Diesem „Lex Hintze“ scheint Eberhard Wagemanns zweibändiges Mammutwerk „Verteidigung und Verfassung in Europa“ zu gehorchen. Der ehemalige Kommandeur der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr, Kriegsteilnehmer des Jahrgangs 1918 und promovierter Germanist, repräsentiert den selten geworden Typus des gebildeten Offiziers, der sich nach der Pensionierung nicht nach Teneriffa sondern in die Bibliothek verfügt.

Was bei Wagemanns Marathon-Lektüre herausgekommen ist, sieht aus, als solle die abendländische Geschichte von Sparta bis Potsdam wieder einmal im Geiste Spenglers strukturiert werden. Nur daß diesmal der Interpret nicht mit biologischen Metaphern von blühenden und verwelkenden Kulturen operiert, sondern mit dem allgegenwärtigen Schema Hintzes. In aller Bescheidenheit weist Wagemann solche Unterstellungen gleich eingangs zurück. Er wolle auch nichts Neues erzählen, nur bislang vernachlässigte Sichtweisen vergegenwärtigen. Dazu zählt, was Wagemann die Bedeutung der „geopolitischen Lage“ eines Staates nennt. Also doch ein damit implizierter Rekurs auf Hintzes These? Ja und nein. Ja, weil Wagemann an Hintzes rotem Faden sein Material auswählt und strukturiert. Nein, weil er diesen roten Faden leider zu oft aus dem Auge verliert und den Leser mit nicht enden wollenden Literaturreferaten erschöpft. Weniger wäre hier mehr gewesen. So hätte Wagemann den auch heute noch überraschenden, wenngleich in der althistorischen Forschung hinlänglich bekannten Befund wesentlich knapper darlegen können, wonach der „tyrannische“ Kriegerstaat Sparta ungleich friedfertiger war als die „demokratische“ Polis der Athener, deren Handels-Imperialismus erst an den Grenzen der antiken Welt Halt machte. Das aus dieser Analyse gewonnene Fazit, die Identifizierung von Demokratie und Friedenspolitik sei eine Legende, kann Wagemann dann in seiner vergleichenden Betrachtung der Neuzeit, die Preußen und die westlichen Demokratien kontrastiert, immerhin überzeugend verifizieren. In seiner an Gerhard Ritters „Staatskunst und Kriegshandwerk“ orientierten Rekonstruktion preußisch-deutscher Verfassungsgeschichte gelangt Wagemann an einen neuralgischen Punkt, der ihm das Verständnis weltpolitischer Konstellationen des 20. Jahrhunderts verstellt. Wenn man wie der soldatisch geprägte Verfasser davon überzeugt ist, daß die preußische Militärverfassung nur als Antwort auf außenpolitische Vernichtungsdrohungen zu verstehen ist, dann kann man die Nachfolger Bismarcks und Moltkes schwerlich dafür tadeln, daß sie innenpolitische Bedingungen nach Maßgabe der außenpolitischen Bedrohung veränderten. Wagemann muß selbst einräumen, daß es ab 1900 nicht mehr wie gewohnt um „Selbstbehauptung im kontinentalen Rahmen“ ging. Vielmehr hatten sich die „Rahmenbedingungen“ für die expandierende Mittelmacht so „grundlegend“ verändert, daß die Reichsführung schon 1914 vor der heute als hybrid diffamierten Alternative „Weltpolitik oder Untergang“ stand. Die am Ende dieses eigenständigen weltpolitischen Engagements erforderliche „totale“ Inanspruchnahme des „Volksgenossen“ hat, bewältigungsbedingt, jenes moderate preußische Dienstethos diskreditiert, um dessen Re-Aktualisierung es Wagemanns „weltgeschichtlichen Betrachtungen“ geht - stets mahnend, daß ein Staat nur Bestand habe, wenn ihn die Opferbereitschaft seiner Bürger trägt. Wolfgang Müller

Eberhard Wagemann: Verdrängte Geschichte. Verteidigung und Verfassung in Europa. v.Hase&Koehler Verlag, Mainz 1999, 2 Bde., 461 u. 564 Seiten, 74 Euro


 
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