© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002


Gewalt in den Medien: Immer mehr fernsehen führt zu Konflikten in Schule und Beruf
Aufstand der Schutzbefohlenen
Wolfgang Scheidt

Ich hasse Mathe und die Lehrer, drum nehme ich die Waffe wieder und strecke alle Lehrer nieder“, dichtet ein 15jähriger Gymnasiast aus Neuruppin. In Meißen läßt der gleichaltrige Andreas S. den Worten Taten folgen. Er ermordet seine Geschichtslehrerin Sigrun Leuteritz mit einem Messer: 24 Mitschüler sehen, wie er 22 Mal zusticht. In Bad Reichenhall schießt ein 16jähriger wahllos mit mehreren Langfeuerwaffen auf Passanten: Zwei Menschen sterben, dann tötet er seine Schwester und schließlich sich selbst. In Augsburg verbirgt sich ein Jugendlicher hinter einer Totenmaske und ermordet die 12jährige Vanessa mit den Worten: „Ich bin der Tod.“ Im bayerischen Freising bastelt der Wirtschaftsschüler Adam Labus eine Rohrbombe, tötet seinen Schuldirektor Klaus Cislak und zwei Ex-Kollegen. Derartige Einzelfälle häufen sich in letzter Zeit.

Die Art der Gewaltanwendung sei deftiger geworden, warnt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. „Die Grenzziehungen müssen im Elternhaus stattfinden“, betont er. Zu oft sind Väter und Mütter froh, wenn sie ihre Kinder vor der Glotze beschäftigt wissen. Zwei Drittel aller Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren saßen im vergangenen Jahr täglich zumindest kurz vor dem Fernseher, den sie im Durchschnitt fast zwei Stunden lang nutzten. Beliebt sind vor allem die Privatprogramme mit unterhaltenden (Action-) Filmen. Zugleich fordert Kraus die Medien auf, ihr „Gewaltbombardement einzuschränken“. Denn seit Einführung des Privatfernsehens in Deutschland gibt es immer freizügigere und brutalere Programmangebote für eine junge Zielgruppe, getreu dem Motto: Mehr Sex und Crime gleich mehr Zuschauer gleich höhere Werbeeinnahmen. „Actionhelden“ wie Rambo und der Terminator praktizieren im Fernsehen Selbstjustiz, sonntags um 18 Uhr 15 zeigte Sat1 gerade im Film „Glut der Gewalt“ ausführlich einen Lynchmord - nicht gerade das Richtige für Kinder und Jugendliche, die vielleicht auf eine Vorabendserie warten. Jetzt fordert die zuständige Landesmedienanstalt vom Sender ein Bußgeld von 70.000 Mark.

Der Jugendmedienschutz spielt für das Fernsehen eine besondere Rolle: Der Apparat ist immer verfügbar, verlangt kaum Vorkenntnisse und bietet eine intensive Erlebnisdosis, der großes Wirkungspotential nachgesagt wird. Deshalb gelten für das Fernsehen strengere Jugendschutzregeln als für Presse, Funk und Film. Dazu gehören Zeitgrenzen für Sendungen, die für Kinder und Jugendliche ungeeignet sind. Bis 22 Uhr soll ein Programm von der gesamten Familie konsumiert werden können, erst danach dürfen Filme gezeigt werden, die etwa erst ab 16 Jahren freigegeben sind. Seit April 2000 müssen derartige Sendungen mit einem Hinweis versehen werden: „Die folgende Sendung ist für Zuschauer unter 16 Jahren nicht geeignet“ - Kritiker sprechen von einer Alibifunktion. Wirkungsvoller ist das Sendeverbot von Beiträgen, die pornographisch sind, Krieg und Gewalt verherrlichen, die Menschenwürde verletzen und damit Kinder und Jugendliche stittlich schwer gefährden können. Auch ganze Sendeformate wie Daily Talks können auf den späten Abend verlegt werden, wenn ihre Themengestaltung und Präsentation als jugendgefährdend eingeschätzt werden.

Aber was bewirkt Mediengewalt überhaupt bei Heranwachsenden? Was ist jugendgefährdend? Und wie sieht es mit der Fernseherziehung von Kindern und Jugendlichen aus? Um es vorwegzunehmen: Trotz geschätzten 5.000 internationalen Studien zur Gewaltthematik gibt es darauf keine allgemein gültigen Antworten. Simple und direkte Erklärungsversuche wie „keine Gewalt mehr im Fernsehen gleich keine Gewalt mehr bei Jugendlichen“ haben sich als unhaltbar erwiesen. Die bei Machern beliebte Ansicht, Mediengewalt würde beim Betrachter Aggressionen abbauen, gehört ebenfalls der Vergangenheit an. „Ich gehe persönlich davon aus, daß auch beim Fernsehen gelernt wird, also ein Lernen am Modell stattfindet“, vermutet Michael Myrtek, Psychologe an der Universität Freiburg. „Wenn die Protagonisten im Fernsehen mit Gewaltanwendung gewinnen, wird dies als eine Form der Konfliktbewältigung wohl auch von den jungen Zuschauern gelernt.“ Weil Gewalthandlungen im Fernsehen meist spannend sind, verfolgen Kinder und Jugendliche sie besonders aufmerksam. Zudem ist Gewalt relativ einfach zu lernen und zu imitieren. Insbesondere wenn sich die „guten“ Helden gewalttätig verhalten, um ihre „gerechten“ Ziele zu erreichen, identifizieren sich Kinder und Jugendliche gerne mit ihnen.

Zusammen mit Christian Scharff konnte Michael Myrtek nachweisen, daß ein übermäßiger Konsum Schülern schadet. In einem Wirkungsexperiment untersuchten sie jeweils einhundert 11- und 15jährige Schüler, deren Herzfrequenz und Bewegungsaktivität über 23 Stunden gemessen wurde. Jede Viertelstunde wurde zudem die emotionale Befindlichkeit der Schüler festgestellt. Dann trennten die Forscher die beiden Altersgruppen in Vielseher (durchschnittlich drei Stunden täglicher Konsum) und in Wenigseher (zirka eine Stunde pro Tag). Die jungen Vielseher verbringen ein Drittel ihrer Freizeit mit Fernsehen, also rund 1.100 Stunden pro Jahr. Für die Erziehung steht den Eltern in etwa der gleiche Zeitraum zur Verfügung, der Einfluß der Schule ist mit jährlich 1.000 Stunden sogar noch geringer. Bei den 15jährigen Vielsehern verringert sich der elterliche und schulische Einfluß auf die Kinder - 42 Prozent der „Erziehung“ leistet hier das Fernsehen. Durch das übermäßige Fernsehen wird bei Vielsehern die Zeit für soziale Kontakte, Spielen und Hobbys knapp. Dabei wird das Fernsehen subjektiv angenehmer empfunden als die Schulzeit, obwohl die körperlich gemessene Beanspruchung beim Fernsehen wesentlich höher ist. Gravierend ist jedoch, daß mit steigendem TV-Konsum die emotionalen Reaktionen abstumpfen. Schüler, die viel fernsehen, empfinden Mediengewalt vermutlich als weniger bedrohlich. Mit steigendem TV-Konsum bekommen sie Schwierigkeiten in der Schule. Das empfinden sie wiederum als belastend, was Aggressionen fördern kann. Ob sie deshalb im täglichen Leben eher zum Messerstecher oder Steinewerfer werden, kann die Studie allerdings nicht beantworten.

Kein friedlicher Mensch wird allein durch das Fernsehen gewalttätig. Schnell war nach dem Meißener Mord an einer Lehrerin der Hauptschuldige gefunden: „Zufällig lief gleichzeitig der Film ‘Tötet Mrs. Tingle’ an, allerdings drei Tage später“, erinnert sich FSF-Geschäftsführer Gottberg. „Lehrerverbände forderten die Absetzung des Filmes, sie waren sicher, daß der Jugendliche nach Anweisungen des Filmes gehandelt habe. Das kann aber nicht sein, denn der Jugendliche konnte den Film nicht gesehen haben.“ Zudem bleibt die Lehrerin im Film am Leben - der Schüler erkennt die Tötung der ungeliebten Person als falsches Mittel. Dennoch müssen Eltern den TV-Konsum ihrer Kinder genau beobachten, sie dürfen sich nicht nur auf Schule und Medienaufsicht verlassen. Ein Psychogramm gewaltbereiter Jugendlicher liefert Bernd Gallhofer: „Wir müssen den Finger dorthin legen, wo es wirklich weh tut, nämlich dahin, daß diese Kinder allein gelassen wurden“, erklärt der Gießener Psychologe. „Das ist das Ergebnis und wir müssen jetzt umdrehen, sonst ist es zu spät!“


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