© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Die Gewalt des Eros
Frauen im alten Griechenland: Sie waren keineswegs ohne Macht und Einfluß
Günter Zehm

Allmählich kommen auch bei uns die sogenannten „gender studies“ in Mode, die in den USA schon seit längerem etabliert sind. Feministische Kulturhistorikerinnen versuchen dort, die überlieferte abendländische Geschichte umzuschreiben, sie als eine Geschichte der permanenten Frauenunterdrückung und Frauenausgrenzung darzustellen und darüber zu klagen. Julia Iwersens Buch „Die Frau im Alten Griechenland“ gehört in diesen Kontext.

Gleich im ersten Kapitel erfahren wir, daß das klassische Griechenland des sechsten und fünften Jahrhunderts v. Chr. für Frauen die reinste Hölle gewesen sei. Frauen, zeigt uns die Autorin, wurden in dieser gloriosen Polisgesellschaft, die doch der Ursprung des Logos, der Wissenschaft und der Demokratie gewesen ist, nicht einmal als richtige Menschen angesehen. Zu den sportlichen Spielen hatten sie keinen Zutritt, zum Militärdienst natürlich ebenfalls nicht und nicht zur Volksversammlung und zur Staatsverwaltung. Sie waren nichts weiter als rechtlose Dienerinnen der männlichen Haushaltsvorstände - sagt Julia Iwersen.

Ihr Buch besteht dann freilich zu mindestens neunzig Prozent aus einem Referat über die ungeheure Rolle, die den Frauen im griechischen Mythos und bei den religiösen Riten zukam. Es wimmelte in Hellas von weiblichen Göttinnen, es gab Priesterinnen und Seherinnen und Heroinen und Hetären, und die absolute Dominanzfigur der klassische Epoche, Perikles, ließ sich in aller Öffentlichkeit von seiner Frau Aspasia beraten und sogar gängeln.

Verglichen etwa mit der altisraelischen Propheten- und Richtergesellschaft war das klassische Athen ein Hort der Weiblichkeit und der Emanzipation. Über dem Parthenon thronte als Schutzgöttin und eifernde Kriegerin die „jungfräuliche“ Pallas Athene, die Frauen hatten eigene Feste voller orgiastischer Praktiken, und gegebenenfalls (siehe die „Lysistrata“ des Aristophanes) drohten sie mit Sexverweigerung und brachten damit ihre indirekte „Macht aus dem Schlafzimmer“ massiv zur Geltung.

Julia Iwersen sieht nicht, daß es gerade die große Macht der Frauen im klassischen Griechenland war, der von ihnen dort so souverän verkörperte Eros, der die athenischen Männer zu gewissen absolut notwendigen Schutzmaßnahmen trieb. Keines der alten Völker ist sich der Gewalt des Eros so bewußt gewesen wie die Griechen. Schon bei Hesiod spielte Eros die zentrale Rolle, war - nebst dem Chaos - der Anfang von Allem und Jedem, die Urkraft, die allein das Chaos aufzuheben vermochte.

Diese Urkraft, so sahen es die Griechen, war von Anfang an mit dem verbunden, was wir heute Sex nennen, also mit der Anziehung, die die lebendigen Leiber zueinander und zu körperlicher Verbindung, zur Vereinigung, treibt. Eros war die Lebendigkeit an sich und überhaupt, ein glorioser, aber ein furchtbarer Gott, ein Zwang, mit dem man sich nicht ins Benehmen setzen konnte, dem man ausgeliefert war, der Affekt schlechthin.

Dieser Eros mußte gezähmt werden, indem man ihn von seiner spontanen Gewalt, seiner Körperlichkeit, seiner Leiblichkeit, weitgehend ablöste, ihn eben zur berühmten „platonischen“ Liebe verdünnisierte. Die Frauen aber galten - und zwar völlig zu Recht (auch Iwersen räumt das ein) - als die Besitzerinnen und Verwalterinnen des ungebremsten Eros. Wer Logos und Eros, Vernunft und Liebe, in ein erträgliches Verhältnis zueinander bringen wollte, mußte die Frauen partiell aus der Polis ausschalten.

Der „reine“ Logos, wie ihn Parmenides und Heraklit herausgemeißelt hatten - er führte, konsequent beim Wort genommen, ins Nichts, wie die Diskussionen des Sokrates mit den Sophisten ja so trefflich demonstrieren. Er bedurfte, um zum Sein zu kommen, einer materiellen, chthonischen Kraft, und diese Kraft war Eros. Doch der mußte seiner dunklen, vegetativen Seite entkleidet werden, mußte, um es mit einem Wort zu sagen, zum männlichen Eros werden, genauer: zum Eros der Jünglinge, die von weisen Männern erzogen wurden, mit allen Sublimierungen und heiklen Kurven, die solche Erziehung mit sich brachte.

Kaum ein Zweifel kann darüber bestehen, daß es die Sorge vor der Beschädigung des Logos durch den ungefilterten Eros war, die die Athener zu ihren „mysogynen“ Maßnahmen trieb, und nicht die von Iwersen genannten Erbschafts- und Sippengeschichten, die ja bei allen anderen frühen Völkern genauso wirksam waren. Eben dadurch hoben sich die Hellenen von vergleichbaren Völkern ab: daß sie den Eros nicht nur in den Dienst der Lust und der Fortpflanzung stellten, sondern vor allem und ganz bewußt in den Dienst des Logos. Eben dadurch wurden sie zu Schöpfern der Wissenschaft, des Theaters und der reflexiven Ästhetik sowie des zum Lobpreis der Schönheit überhöhten Realismus in der Kunst.

Julia Iwersen weist in ihrem Buch knapp auf die existentiellen Kosten hin, die eine solche Leistung gehabt hat: Abstraktion von der Wirklichkeit, Teilung der Welt in Schwarz und Weiß, Naturferne, Gefühlskälte usw. Diese Kosten bestehen tatsächlich und machen uns zunehmend zu schaffen.

Ob aber die jetzt offenbar anbrechende Ära der ungebändigten weiblichen Präsenz in der Öffentlichkeit (in den „Medien“) kostensparender verlaufen wird, steht durchaus in den Sternen. Angesichts der riesigen Entsublimierungen, die das volle Öffentlichwerden des Sex schon jetzt mit sich gebracht hat, angesichts der horrenden Sprach- und Gebärdenvergröberung allenthalben, des gemeinen und rohen Stils, muß man daran zweifeln.

Bild: Aspasia neben Perikles: Die wahre Herrin des antiken Athens

Julia Iwersen: Die Frau im Alten Griechenland. Religion, Kultur, Gesellschaft. Patmos Verlag im Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich 2002, geb., 189 Seiten, 16,40 Euro


 
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