© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Der Meister des Mosaiks
Peter Scholl-Latour faßt seine Eindrücke von den Krisenbrennpunkten der letzten Jahre in seinem jüngsten Buch zusammen
Michael Wiesberg

Der Name des Fernsehjournalisten und Publizisten Peter Scholl-Latour (geboren1924) steht für kritische Berichterstattung aus fast allen Krisenregionen der Welt. Seine großen Fernsehdokumentationen sowie seine zahlreichen Buchpublikationen, von denen beispielsweise „Der Tod im Reisfeld“ ein Weltbestseller wurde, seine aktuellen Beiträge über die politisch-kulturellen Entwicklungen in Asien wie in Nahost, in Afrika, Zentralasien oder anderswo, weisen Scholl-Latour als engagierten und dennoch kühl-distanzierten Vermittler internationaler Geschehnisse aus.

Was Peter Scholl-Latour auszeichne, so der Historiker Michael Stürmer, sei ein heroischer Pessimismus, „gemischt mit Traurigkeit angesichts der versunkenen Welten und der Einsicht, daß die Welt mehr Probleme hat als Lösungen, zumal in den Bruchzonen zwischen Europa und Asien, wo sich Generationen um Generationen Jahrhundert um Jahrhundert abgearbeitet haben. Am Ende des Tages hat er ein Mosaik ausgelegt aus Tausenden von kleinen Steinen, ein Meisterwerk“.

Nicht immer fallen die Urteile über Scholl-Latour so wohlwollend aus. Deutsche Orientalisten qualifizieren die Beobachtungen Scholl-Latours gerne als „mythischen Kulturalismus“, ja als „Rassismus“ ab. Scholl-Latour hielt den deutschen Orientalisten im Gegenzug vor, daß diese im Grunde Agnostiker seien, um nicht zu sagen Atheisten, die mit Religion nichts anfangen könnten. Daß Scholl-Latour zu den Autoren gehört, die für das Religiöse eine hohe Wertschätzung haben, ist in jedem seiner Bücher mit Händen zu greifen. Nicht von ungefähr ist der heilige Bernard von Clairvaux seine Lieblingsgestalt. Seit dem 11. September darf sich Scholl-Latour in seinem Ansatz bestätigt fühlen, was ihm eine bisher selten erreichte Omnipräsenz in den Medien eingebracht hat.

Daß sich Scholl-Latour auch im Zuge der Ereignisse vom 11. September seine skeptische Grundhaltung bewahrt hat und nicht in den Chor der bedingungslosen Unterstützer der globalen US-Polizeiaktionen eingefallen ist, spricht für dessen unbestechlichen Geist. Gegenüber der Monatszeitschrift „Konkret“ erklärte Scholl-Latour beispielsweise im November 2001: „Im Moment wird so viel gelogen wie seit dem Golfkrieg nicht mehr. Im Golfkrieg haben ungeheuerliche Desinformationen stattgefunden. Ähnliches wird uns heute doch auch aufgetischt. Ich denke an die Anleitung bin Ladens, auf Englisch auch noch, wie man den Heiligen Krieg führt. Daß ausgerechnet in dem Mietauto der Attentäter die ganzen Unterlagen gefunden wurden, stimmt doch sehr skeptisch. Die Amerikaner haben der Öffentlichkeit noch immer keinen Beweis vorlegen können.“ Mutige Worte von einer „Person des öffentlichen Interesses“ in einer Zeit, in der jede kritische Bemerkung in Richtung USA als „Antiamerikanismus“ denunziert wird.

Das zitierte Bild Michael Stürmers, nach dem Scholl-Latour in seinen Büchern ein „Mosaik“ auslege, gilt uneingeschränkt auch für sein neues Buch „Der Fluch des neuen Jahrhunderts. Eine Bilanz“, das soeben im Bertelsmann-Verlag erschienen ist. Dieses Buch erstreckt sich über den Zeitraum von Juni 1999 bis Oktober 2001 und spiegelt Scholl-Latours Eindrücke von allen Krisengebieten dieser Erde. Ob Balkan, Naher Osten, Irak, Iran, Tschetschenien oder zuletzt Afghanistan: Scholl-Latour hat zu allen diesen Konfliktregionen fundierte Beobachtungen und Einsichten beizutragen, die in dieser Form ihresgleichen suchen.

Bei allen blutigen Auseinandersetzungen, mit denen sich Scholl-Latour auch in seinem neuen Buch wieder beschäftigt, kommt dem kulturellen Hintergrund, dem religiösen Fundament eine zentrale Rolle bei der Betrachtung zu. Scholl-Latour verdeutlicht eines: der Krieg mutiert mehr und mehr zum Kampf, er kennt keine Soldaten mehr, sondern nur noch Krieger. Mögen sich diese nun UÇK, Taliban, PKK oder wie auch immer nennen. In Scholl-Latours Betrachtungen scheint die Ankündigung des französischen Schriftstellers André Malraux mitzuschwingen, nach der wir am Beginn eines neuen mythischen Zeitalters stehen. Dieses Zeitalter werde religiös sein, befand Malraux. Scholl-Latour kann vor diesem Hintergrund als Interpret kryptischer Zeichen angesehen werden. Und in der Tat liest sich manche Passage aus seinem Kaleidoskop von Kommentaren, Fernseh-Dokumentations-Texten, Reportagen und Interviews visionär.

Was Scholl-Latour von der Qualität des Journalismus in Deutschland hält, gehört zu den instruktivsten Passagen des Buches. Scholl-Latour moniert, daß es praktisch keine analysierenden Dokumentationen mehr gebe. Auch nicht bei kriegerischen Ereignissen, die dringend einer kritischen Hintergrundbeleuchtung bedürften. Es werde nur der humanitäre Aspekt gezeigt, weil man damit an die Rührseligkeit der Menschen appellieren könne. Damit werde ein „seltsamer Voyeurismus“ auf das Elend anderer hervorgerufen. „Der Kosovo-Krieg“, so Scholl-Latour, „war ein typisches Beispiel dafür, als man dauernd die flüchtenden Albaner sah. Dabei sind in Bosnien viel schlimmere Sachen passiert als dort“. Scholl-Latour führt diese Entwicklung auf die „politische Korrektheit“ zurück: „Jemand, der nicht ein so alter Mann ist wie ich, hätte einen Film wie ‚Lügen im Heiligen Land‘ nicht produzieren können“, erklärte er in einem im Buch abgedruckten epd-Interview. „Wegen angeblich allzu kritischer Betrachtung Israels hätten andere ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.“

Es ist diese im Laufe der Jahrzehnte erarbeitete Ausnahmestellung, die Scholl-Latour ein Maß von geistiger Freiheit eröffnet hat, das heute in Deutschland selten geworden ist. Keinem anderen wären Worte wie die folgenden nachgesehen worden: „Aber daß diese Pazifisten (gemeint sind die rot-grüne Bundesregierung und die „68er“, d.V.) sich im Kosovo voll engagiert und dort die ganzen Lügengeschichten mitgemacht haben, das stört. Jamie Shea, der kleine Goebbels der Nato, hat doch keine treueren Gefolgsleute gehabt als die deutschen Journalisten. Und Rudolf Scharping wollte von der amerikanischen Aufklärung Satellitenbilder von Massengräbern haben, um seine Beteiligung zu rechtfertigen. Joschka Fischer hat sogar von einem neuen Auschwitz gesprochen. Je länger die regieren, so hab’ ich einmal gesagt, desto linker werde ich.“

Es ist diese in Wort und Bild zum Ausdruck kommende Unbestechlichkeit, die Scholl-Latours Bücher so interessant macht. Daß dieses Maß an journalistischer Integrität in Deutschland immer seltener wird, zeigt, wie es um die geistige Freiheit in Deutschland bestellt ist.

Peter Scholl-Latour: Der Fluch des neuen Jahrhunderts.Eine Bilanz. Bertelsmann, München 2002, geb., 352 Seiten, 22 Euro


 
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