© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Mangelnde Reife für das europäische Modell
Der britische Politologe Larry Siedentop warnt vor einer übereilten Union der europäischen Nationalstaaten
Josef Schüßlburner

Stellungnahmen zu dem nicht zuletzt von Außenminister Fischer als „beeindruckend“ gelobten Buch lassen zunächst vermuten, daß hier ein Vertreter der englischen Europabefürworter ein Manifest vorlegt. Die genauere Lektüre dieses anregenden Werkes eines Dozenten für Ideengeschichte und Politik in Oxford bietet jedoch eher Europaskeptikern zahlreiche Argumente.

Siedentop sieht Europa auf dem Ökonomismus errichtet, einer vulgär verkürzten Form des Liberalismus, die strukturell dem Marxismus nicht unähnlich ist. Demgegenüber ist es das Anliegen Siedentops, den Liberalismus voll zur Entfaltung zu bringen, indem die Bedeutung der Institutionen, der Verfassungsfrage und der damit verbundenen historisch tradierten Wertvorstellungen betont werden, die auf dem Christentum beruhen. Der Verfasser integriert dabei wesentliche Aspekte der von konservativer Seite gegen den Liberalismus vorgebrachten Argumentation in seine Neubegründung des Liberalismus. Von dieser Warte aus sieht er bei den Rechtfertigungen von Europa nur in dem französischen Anliegen, die Deutschen durch institutionelle Vorkehrungen zu beherrschen, einen Ansatz zur notwendigen Verfassungsdiskussion. Die „Beschleunigung“ von Europa seit Maastricht ist wesentlich als französische Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung zu verstehen, die die französische Hegemonie zu gefährden scheint.

Der Verfasser findet harte Worte für die Euro-Politik Frankreichs, bringt jedoch der französischen politischen Klasse großen Respekt entgegen, da sie immerhin eine politische Vision von Europa habe, die sie über den Ökonomismus erhebt. Während die englische politische Klasse an diese Ideologie tatsächlich glaube und deshalb nichts zur Verfassungsdiskussion beitragen könne, ist Ökonomismus für die französische Klasse Machtpolitik. Allerdings würde auf diese Weise die negativ bewertete französische Tradition der Zentralisierung mit Tendenz zum Despotischen mit potenzierter Wirkung auf Europa übertragen. Der Verfasser greift deshalb auf die französischen Theoretiker Montesquieu und Tocqueville zurück, die die Problematik der französischen politischen Tradition erkannt und ihre Überwindung in der Rezeption angelsächsischer Lösungen gefunden haben. Damit biete sich als Maßstab für die europäische Verfassungsdiskussion der Föderalismus nach US-Art an und der Verfasser fragt dementsprechend, wo denn die europäischen Madisons bleiben würden, welche die grundlegenden Verfassungsfragen für Europa stellten. Im Föderalismus findet der Verfasser die praktische Auflösung von Widersprüchen, wie etwa des Verhältnisses von „absoluter Demokratie“ und „demokratischer Gesellschaft“, womit er „Liberalismus“ meint. Es ist erhellend, wie ein kluger und im positiven Sinne wirklicher Liberaler zugesteht, daß hier sogar ein normativer Grundwiderspruch besteht: Wer sich wie der Demokrat selbstlos dem Gemeinwohl widmet, kann nicht unbedingt wie der Marktaktivist permanent an seinem Eigennutz arbeiten. Die föderale Machtverteilung soll beide Aspekte optimieren.

Die grundlegende Frage, ob Europa denn unbedingt an die Stelle von Nationalstaaten treten müsse, stellt der Verfasser nur mehr rhetorisch. Da er den Ökonomismus und seine „irreversiblen Notwendigkeiten“ ablehnt, erscheint ihm ein Scheitern des Projektes durchaus möglich: Er kritisiert in diesem Zusammenhang die bundesdeutsche politische Klasse, die sich bei der Einführung des Euro, der deutschem Interesse gar nicht entsprechen könne, über überwiegende Mehrheiten des eigenen Volks hinweggesetzt habe. Schlage der Euro fehl, würden dies die Deutschen als von den Franzosen zugefügte Demütigung begreifen, was zu einer Wendung der Deutschen nach rechts und der Franzosen nach links führen müsse. Deshalb warnt Siedentorp mehrmals davor, Europa zu sehr zu beschleunigen, da dies selbst die endlich etablierte Demokratie in den Mitgliedsstaaten, die nun einmal auf unterschiedliche Kulturen und Erfahrungen gestützt sei, gefährden würde. Die Erzeugung einer gemeinsamen Kultur, die für stabile Institutionen notwendig ist und deren Bedeutung Siedentop bei scharfer Verurteilung des Ökonomismus betont, erfordere nämlich Generationen. Eine gemeinsame (liberale) Kultur sieht er zudem durch den Multikulturalismus bedroht, der auf einen Pluralismus der Ethnien, anstelle des vom Liberalismus geforderten Pluralismus der Individuen hinauslaufe. Viel hänge davon ab, ob man den Islam in ähnlicher Weise auf christliche Werte verpflichten könne, wie dies im Falle des Judentums gelungen sei.

Siedentops wesentliche Rechtfertigung seiner Art von Europa anstelle des eigentlich gebotenen demokratischen Nationalstaatskonzepts ist letztlich, daß dann die USA, deren Demokratie durch den Machtverlust der WASP (white-anglo-saxian protestants) durchaus in Richtung Multikulturalismus und absoluter Demokratie erodieren könnte, in ihrem Kampf „to make the world safe for democracy“ nicht so alleine in der Welt stünden, sondern sich im gerechtfertigten moralischen Imperialismus ermutigt sehen könnten, wenn die Europäer ihrem föderativen Beispiel folgten. Als Notwendigkeit drängt sich dann eine Verfassungsreligion auf, von der Siedentop hofft, daß sie auf christliche Werte gestützt sei.

Dieser Hoffnung steht jedoch in Europa der von Siedentop kritisierte Antiklerikalismus entgegen, der den Liberalismus auf dem Kontinent von seinen christlichen Wurzeln gekappt habe. Auch als quasireligiöses Konzept kann daher Europa, anders als Siedentop meint, nicht gerechtfertigt werden. Er sollte sich mit seinem durchaus plausiblen Anliegen auf Großbritannien beschränken, wo in der Tat eine Verfassungsdiskussion anstünde. Ansonsten gilt: „Europa ist für den Föderalismus noch nicht reif.“

Larry Siedentop: Demokratie in Europa. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, geb., 360 Seiten, 25 Euro


 
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