© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
In den sauren Apfel beißen
Lesekanons und kein Ende: Die absonderlichen Empfehlungen der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“
Thorsten Thaler

Wenn man keine Lust mehr zum Lesen hat, wenn man eigentlich nur noch fernsehen oder im Internet surfen will, dann ruft man nach dem „Lesekanon“, dann sollen einem die Experten verraten, was man mindestens gelesen haben „muß“, um auf Partys mitreden zu können.

Der kurioseste dieser Kanons erschien jetzt bei Hanser in München: „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ von Heinz Schlaffer. Darin erfährt der (Nicht-)Leser zu seiner freudigen Überraschung, daß es nur 200 Jahre lang so etwas wie deutsche Literatur gegeben habe, nämlich in der Zeit zwischen Goethe und Max Frisch. Alles übrige davor und danach sei für den modernen Leser absolut vernachlässigbar. Hurra! Danke für die Marscherleichterung!

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung allerdings reagierte sauer. Und was ist, so fragt sie in ihrer letzten Ausgabe, mit der „blühenden“ deutschen Prosaliteratur der letzten zehn Jahre? Ist das nicht das Köstlichste, was den Deutschen bisher literarisch widerfahren ist, all diese wunderbaren Werke von Maxim Biller, Jenny Erpenbeck, Thor Kunkel, Feridun Zaimoglu? Diese und weitere 21 Autoren „muß“ man unbedingt gelesen haben, donnert die FAS.

Nun denn, wer es drauf ankommen lassen will, der lese ihre Bücher. Er wird danach geradezu gierig in den sauren Apfel des Germanistik-Professors Schlaffer beißen. Zur Mundspülung gewissermaßen. Danach kann er es ja mal mit dem Nibelungenlied versuchen.


 
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