© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002


Fragen nach dem Gestern
Russische Annäherungen an die deutsche Geschichte Ostpreußens
Wolfgang Müller

Seinen umfangreichen, mit ausführlichen Zitaten und Quellenbelegen angereicherten Beitrag über die „Wiederentdeckung der ostpreußischen Geschichte und des regionalen Bewußtseins im Gebiet Kaliningrad“ zwischen 1945 und heute versieht der Osteuropa-Historiker Eckhard Matthes mit der etwas knalligen Überschrift: „Verbotene Erinnerung“ (Osteuropa, Heft 11-12/01). Damit scheint unzweideutig festgelegt, daß es jene waren, die Ostpreußen völkerrechtswidrig annektierten, die auch an der deutschen Vergangenheit dieser Provinz kein Interesse haben konnten. Tatsächlich schreibt Matthes hauptsächlich über diese sowjetische Politik der Geschichtsverdrängung, die erst seit 1989, mit der Öffnung des militärischen Sperrgebiets, zur Disposition steht.

Und doch fällt der Blick zunächst auf den von Matthes wie beiläufig mitgeteilten, in einer langen Anmerkung versteckten bundesdeutschen Beitrag zu diesem stalinistischen und poststalinistischen Erinnerungsverbot. 1996 stellte Dietmar Albrecht, der der FDP zuzurechnende, inzwischen abgelöste ( JF 37/01) Leiter der Travemünder Ostsee-Akademie zusammen mit dem „Komitee für Archivangelegenheiten des Kaliningrader Gebietes“ einen Förderungsantrag beim Bundesministerium des Innern, um „Flucht und Vertreibung“ im Raum Königsberg zu erforschen. Der Antrag wurde dem Auswärtigen Amt seines Parteifreundes Klaus Kinkel und von dort Ernst-Jörg von Studnitz, dem deutschen Botschafter in Moskau, zur Stellungnahme zugeleitet. Albrecht und seine Mitstreiter bekamen dessen Votum nie zu Gesicht. Über ihren Inhalt wurden sie nur mündlich informiert. Nach Einschätzung des Botschafters, so erfuhr Albrecht, sei das Thema des Projekt zu „sensibel“ und dazu angetan, Präsident Jelzin in seiner innenpolitisch prekären Lage zu schaden. Die deutsche Seite solle deshalb lieber davon Abstand nahmen. Dieser Vorgang dokumentiert für Matthes die „übereilte Vorsicht und vorauseilende Rücksichtnahme eines deutschen Diplomaten gegenüber der russischen Seite, mit der er, wohl ohne Not, in den Entwicklungsprozeß historischer Kenntnis- und Bewußtseinsbildung im Gebiet Kaliningrad und zwischen Rußland und Deutschland eingriff“.

In diesem Prozeß spielt das „Gebietsarchiv“ in Königsberg mittlerweile eine zentrale Rolle. Matthes schildert, wie von diesem Gedächtnis Nord-Ostpreußens schon Anfang der sechziger Jahre Impulse ausgingen, um die offiziell verpönte Vorkriegsgeschichte der Region ins Alltagsbewußtsein der „Neusiedler“ zu heben. Eine schnell „abgewürgte“ Diskussion entspann sich dann 1967 um den Erhalt der Königsberger Schloßruine, eine für UdSSR-Verhältnisse fast westlich wirkende Geschichtskontroverse, die der Berliner Zeithistoriker Bert Hoppe vor kurzem in allen Details rekonstruiert hat (JF 41/01). Ende der achtziger Jahre gab es Fortschritte bei der Vernetzung von Gebietsarchiv und der Historischen Fakultät der Kaliningrader Universität. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung regionalgeschichtlicher Ausbildung des Historiker-Nachwuchses. Diplomarbeiten mit einschlägiger Thematik entstanden in größerer Zahl, beschränkten sich jedoch weitgehend auf die Nachkriegsgeschichte und dürften ausweislich vieler Titel („Ordensträger unter den Lehrern im Gebiet Kaliningrad“) den finstersten Parteidoktrin gehorcht haben. Solche Belastungen scheinen nachzuwirken, denn eine „akademische Schule“, ein Lehr- und Forschungsschwerpunkt zur Regionalgeschichte des nördlichen Ostpreußen seit 1945, der zeithistorische Spezialisten ausbildet, ist bis heute nicht erkennbar. Immerhin besteht seit 1992 ein Lehrstuhl für die Geschichte der Ostseeregion, doch eine „konzeptionelle und institutionelle Begründung regionaler Forschung und Lehre“, die mit vergleichbaren litauischen und polnischen Einrichtungen konkurrieren könnte, stehe an der Kaliningrader Universität immer noch aus.

Die „Frage nach dem Gestern“ werde darum verstärkt von regionalhistorisch und heimatkundlich interessierten Laien gestellt und zu beantworten versucht. Ihnen sei es zu verdanken, die „nicht existente“ Geschichte Ostpreußens für dessen jetzige Bewohner sichtbar gemacht zu haben. Anatoli Bachtin zähle dazu, der seit 1975 die historischen Gebäude in der Provinz, Kirchen, Burgen, Befestigungen, Guts- und Bürgerhäuser fotografisch dokumentierte. Ebenso die sich übernational verstehende, litauisch inspirierte und in recht fragwürdiger Weise auf Ostpreußens „multiethnische“ Vergangenheit fixierte „Brüderschaft Prussia“. Eng ans Gebietsarchiv angelehnt ist der „Ostpreußen-Klub“, eine lose Vereinigung von Freizeithistorikern. Zum Erfahrungsaustausch und zu Diskussionsveranstaltungen im Gebietsarchiv treffen sich auch die professionelleren „Regionalhistoriker“. Aus deren Mitgliederkreis ging die erste russische, auch in deutscher Übersetzung veröffentlichte Geschichte der 1544 gegründeten Königsberger Albertus-Universität, Kasimir Lawrinowitschs „Albertina“ (Berlin 1999, JF 22/00) hervor. Das Gebietsarchiv selbst ist bemüht, sich international zu vernetzen. Ansprechpartner sind dabei jene Institutionen, die Quellen zur deutschen Geschichte Ostpreußens bewahren. Das reicht vom Koblenzer Bundesarchiv und dem Marburger Herder-Institut bis zum Pinneberger Samlandmuseum und zum Duisburger Haus Königsberg. Als Forum dieser russischen Identitätssuche fungiert seit 1992 die Zeitschrift Zapad Rossii (Westen Rußlands).

Ob dabei die starke Betonung der äußerst schattenhaften russischen Traditionen in Ostpreußen, die Matthes etwa in der historischen Schwerpunktbildung im 18. Jahrhundert ausmacht, als die Provinz während des Siebenjährigen Krieges kurzfristig von Soldaten des Zaren besetzt war, nicht zu problematischen Verzerrungen und Klitterungen führt, bleibt abzuwarten. Daß im Zuge solcher Rückbesinnungen trotzdem Traditionen durch „das Fenster Ostpreußen“ auf das „Lebensgefühl“ der russischen Bewohner dieses Gebiets einwirken werden, deren Wurzeln außerhalb Rußlands liegen, ist für Matthes, der sich davon eine diffuse geistig-kulturelle „Europäisierung“ Rußlands erhofft, keine Frage.


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