© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002


Nicht blind, sondern verblendet
Frankreich: Aktuelle Bücher von Ex-Ermittlern wie Eric Halphen offenbaren die Schwächen der Justiz
Charles Brant

Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich nehmen die "Bimbes-Affären" kein Ende. Ein Untersuchungsrichter nach dem anderen erklärt seinen Rücktritt. Einer von ihnen, Eric Halphen, hat jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem er das "System" der organisierten Korruption beschuldigt. Am 14. Januar erklärte Halphen, er habe das Magistratsmilieu satt, und verlangte seine Freistellung. Kurz darauf wurde bekannt, daß er Anfang März ein entsprechendes Buch veröffentlichen werde. Man munkelte von skandalösen Enthüllungen. Der gesamte politische Mikrokosmos spekulierte fieberhaft über den Schaden, den Halphen dem Wahlkampf des amtierenden Präsidenten Jacques Chirac zufügen würde. Das Buch erschien - die erwartete "Bombe" blieb jedoch aus. Größeren Schaden richteten die Anschuldigungen des zu einer Haftstrafe verurteilten früheren neogaulistischen RPR-Abgeordneten Didier Schuler an, der behauptete, 1995 von Chiracs engem Umfeld "manipuliert" und später zur Flucht ermuntert worden zu sein.

Der Chirac-freundliche Le Figaro verglich Halphens "Sept Ans de Solitude" mit einem "Knaller, der feucht geworden ist" und sich nicht zünden läßt. In den Buchhandlungen gehen die Exemplare trotzdem weg wie warme Semmeln. Der Titel "Sieben Jahre Einsamkeit" spielt nicht nur - wie Literaturliebhaber wissen - auf Gabriel Garcia Marquez' Bestseller an, sondern auch auf die Dauer der Untersuchung, die Halphen führte, um die undurchsichtigen Finanzen des "Rassemblement Pour la République" (RPR) aufzudecken. Halphen berichtet von den Steinen, die das französische System ihm dadurch in den Weg legte, daß ihm nicht alle Unterlagen zur Verfügung standen.

Halphen, ein Medienstar wider Willen, ist der französischen Öffentlichkeit als unerbittlicher Rächer, als donquichottische Lichtgestalt oder als linker Sektierer bekannt: als der Mann jedenfalls, der es wagte, den Präsidenten vor Gericht berief. Beim Lesen seines Buches entdeckt man einen Menschen, der leidenschaftlich an Gerechtigkeit glaubte und das Amt, das er 18 Jahre lang ausübte, als Lebensaufgabe sah. Man verfolgt seine Karriere vom Studium an der École nationale de la magistrature bis zu seinen ersten Tagen am Gericht von Créteil. Fünf Jahre später, 1994, wurde er von demselben Gericht mit der Untersuchung einer Affäre um gefälschte Rechnungen beauftragt, die harmlos schien und sich später zu einem Riesenskandal ausweitete: der Entdeckung eines Systems illegaler Parteifinanzierung, in dessen Mittelpunkt die Pariser Wohnungsbaugesellschaft HLM stand.

1994 war Halphen gerade 35 Jahre alt. Mit Feuereifer machte er sich daran, Licht in das Dunkel zu bringen. Er war es, der die Schlüsselrolle des Immobilienhändlers Jean-Claude Méry in diesem Dickicht aus gefälschten Rechnungen, Auslandskonten und mit Banknoten vollgestopften Koffern erkannte. Durch Zufall entdeckt er, daß die Pariser Stadtverwaltung Angestellte beschäftigt, die nur auf dem Papier existieren. Er macht von seinem Recht Gebrauch, Hausdurchsuchungen in den Parteizentralen des RPR und der Republikanischen Partei sowie in der Wohnung des Pariser Bürgermeisters Jean Tiberi anzuordnen. Schließlich beruft er gar Präsident Chirac in den Zeugenstand und tritt damit eine Lawine der Empörung los. Am Ende dieser langen Verfolgungsjagd, in deren Verlauf er abgehört, eingeschüchtert und nicht selten instrumentalisiert wurde, mußte Halphen sich geschlagen geben. Der Fall wurde im letzten September ungelöst zu den Akten gelegt.

All dies erzählt Halphen nicht ohne ein gewisses literarisches Flair. Auf die erhofften Enthüllungen verzichtet er, weil er sich zur Diskretion verpflichtet sieht. Dennoch ist sein Buch alles andere als ein "feuchter Knaller". Es malt ein äußerst finsteres Bild der politischen Sitten im heutigen Frankreich und porträtiert seltsame Figuren wie etwa jenen früheren Minister, dessen Rolle in einer Affäre um Waffensendungen ins ehemalige Jugoslawien auf Video gebannt wurde. Vor allem aber ist es eine scharfe und dringend notwendige Kritik an der Arbeitsweise der französischen Justiz und der Mentalität, die dort vorherrscht. Der Autor begnügt sich nicht damit, die organisierte Korruption der politischen Klasse anzuprangern. Er nimmt auch die Polizei aufs Korn, die einer doppelten Hierarchie unterworfen und dadurch handlungsunfähig wird; die Anwälte, die sich auf das Justizgeheimnis berufen, um dann selber der Presse vertrauliche Informationen zuzuspielen; die Journalisten, die Polizeisprecher zitieren, statt eigene Recherchen zu betreiben und sich um eine objektive Berichterstattung zu bemühen.

Am schlechtesten kommen jedoch Halphens Kollegen weg. In einem Rundumschlag bezichtigt er sie krankhafter Eifersüchteleien, egoistischer Ambitionen und eines allzu schwachen Interesses an der Gerechtigkeit. Unverhohlen stellt er ihre Kompetenz in Frage und wirft ihnen politische Hintergedanken vor: Sie dienen nicht der blinden Göttin Justitia, sondern lassen sich von den Götzen der Macht blenden, wie er immer wieder an Beispielen belegen kann. So brauchen Gerichte seiner Meinung nach oft viel zu lange, um einen Fall zur Anklage zu bringen. Ein eigenes Kapitel widmet Halphen den pseudo-juristischen Vorwänden, die angeführt wurden, um sein Vorgehen zu sabotieren: Die Durchsuchung von Tibéris Wohnung wurde ebenso für unzulässig erklärt wie die Beschlagnahme der berüchtigten Videokassette, die Méry aufnahm.

Halphen beschreibt das französische Justizsystem als eine Welt verschlossener Türen, die von "ermüdeten und verbitterten" Männern beherrscht wird, die nur an ihre Karriere denken und keinerlei unliebsame Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. In ihrer Schärfe erinnert seine Kritik an die Karikaturen des berühmten Künstlers Honoré Daumier (1808 - 1879).

Diese Justiz, so urteilt Halphen mit dem Mut der Verzweiflung, ist nicht nur blind, sondern taub und unbeweglich. Jeder Versuch, diesen Zustand zu ändern, strandet an den Klippen des "Systems", und die Leidtragenden sind letztlich die ehrlichen Bürger. "Das System ist zu stark. Der Einzelne kommt nicht dagegen an", muß er resigniert erkennen: "Die Korruption existiert seit Jahrzehnten. Lange Zeit hat niemand auch nur versucht, ihm ein Ende zu setzen. Dadurch konnte das System immer stärker werden. Inzwischen funktioniert es praktisch von selbst. Selbst wenn sich morgen die Politiker oder die Wirtschaftsbosse entschließen würden, es aus der Welt zu schaffen - selbst wenn die Presse und die Justiz ihre Aufgaben ernst nähmen, stünden die Chancen gering, daß sich irgend etwas ändern würde. Die Maschine ist zu mächtig, zu sehr eingeschliffen. Vielleicht würde sie ein bißchen wackeln, aber dann würde sie diese Bagatellen in ihrem Getriebe zermalmen, das schon alles andere verschlungen hat."

Man kann Halphens desillusionierte Bestandsaufnahme von der Hand weisen, wie es nicht zuletzt der Philosoph Alain Finkielkraut mit dem Verweis auf den 1968er Eklat um die "Klassenjustiz" tut. Man kann sich aber auch mißtrauisch fragen, ob es Zufall ist, daß Halphens Freistellungsgesuch aus "persönlichen Gründen" zeitlich mit dem Rücktritt Eva Jolys und Laurence Vichnievskys zusammenfällt, die unter anderem die Untersuchung der Elf-Affäre leiteten. Joly kehrt in ihr Heimatland Norwegen zurück, um die Regierung im Kampf gegen die Korruption zu beraten. Ihre Kollegin Vichnievsky wird Gerichtspräsidentin in der Provinzstadt Chartres - und Buchautorin. Joly, vor wenigen Wochen von Reader's Digest zur "Europäerin des Jahres" gekürt, hat ebenfalls ein desillusioniertes Buch veröffentlicht: "Was ich empfinde, ist nicht Verbitterung. (...) Es ist eher eine Entzauberung. Ich kann nicht mehr ehrlich sagen, daß ich ohne jeden Zweifel daran glaube, daß die Institutionen der Judikative ihre Aufgabe erfüllen können."

Zeitgleich erschien ein kritischer Rückblick von Anne-José Fulgéras, einer Staatsanwältin für Wirtschaftskriminalität, die wegen Unbotmäßigkeit kaltgestellt wurde und nun für eine US-Wirtschaftsprüfungsfirma arbeitet. Wer kann da noch bezweifeln, daß die französische Justiz an einem Krebsgeschwür leidet?


 
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