© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Chinas Bruchlinien
Kino: "Beijing Bicycle" von Wang Xiaoshuai
Werner Olles

Peking heute. Guei (Cui Lin), ein sechzehnjähriger Junge vom Land, kommt mit großen Erwartungen in die chinesische Metropole. Er findet Arbeit bei einem Fahrrad-Kurierdienst. Guei ist sehr stolz auf sein neues silberfarbenes Mountainbike, das sein Eigentum werden wird, sobald er 600 Yuan verdient hat. Aber gerade bevor er endlich das Geld zusammen hat, wird das Rad vor einem Bürogebäude geklaut. Ohne sein Fahrrad hat Guei keine Arbeit mehr. Verzweifelt läuft er durch Peking, um es zu suchen.

Wie durch ein Wunder erkennt ein Freund von ihm das Rad wieder. Allerdings gehört es jetzt Jian (Li Bin), einem Oberschüler, der es auf dem Flohmarkt gekauft hat und sich jetzt als rechtmäßiger Besitzer des Fahrrads sieht. Was für Guei jedoch die materielle Grundlage seiner Existenz bedeutet, ist für Jian ein Statussymbol, das ihm jene Würde verleiht, um in seiner Clique anerkannt zu werden. Ein verbissener Kampf um das Fahrrad beginnt ...

Wang Xiaoshuai ("The House") gehört zu den unabhängigen, jungen chinesischen Filmregisseuren, die vor allem die Bruchlinien des heutigen China mit seinen komplexen, politisch beladenen Lebensbedingungen auf die Leinwand bringen. Die Geschichte, die er hier erzählt, handelt von den riesigen Unterschieden zwischen Stadt und Land, von der Einsamkeit in einer Millionenstadt, in deren Höfen, Gassen und Winkeln man sich verlieren kann, und von der Jugend in einer asiatischen Stadt, die in dem rasanten Wandel ihre traditionellen Werte zu verlieren droht. Xiaoshuai schildert die Verlassenheit des Menschen und sein Streben nach Gemeinschaft, Anerkennung und Glück.

Wang Xiaoshuai hat den Film bewußt auf ein poetisches Niveau gehoben, das stark an Vittorio des Sicas Klassiker "Fahrraddiebe" von 1948 erinnert. Es ist kein politischer Film, sondern eine Fabel von psychologischer Gestaltungskraft, an deren Ende der Regisseur die Grenze zwischen der Einsamkeit des Einzelnen und der schmerzlichen Reflexion über die Erfahrung in der Fremde in einem überwältigenden Bild aufhebt, das die Lebenskraft des Menschen und die deprimierende Sinnlosigkeit seiner Bemühungen spekulativ vereint.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen