© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Die Welt in Schlagzeilen
Kino: "Schiffsmeldungen" von Lasse Hallström
Silke Lührmann

Wer "Schiffsmeldungen" für eine großartige Literaturverfilmung hält, hat den Roman nicht gelesen, für den E. Annie Proulx 1994 den Pulitzer-Preis erhielt. Doch wie in "Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa" (1993), "Gottes Werk und Teufels Beiwerk" (1999) und "Chocolat" (2000) gelingt es Regisseur Lasse Hallström, Szenen einer Gemeinschaft von Fremden und Entfremdeten atmosphärisch zu bebildern.

Schon in Sam Mendes' "American Beauty" (1999) durfte Kevin Spacey seine Lebensbeichte aus einer entrückten Perspektive beginnen. Diesmal schwebt er nicht über den Dingen, sondern unter ihnen: im Wasser, wo sein Vater den jungen Quoyle zum Schwimmenlernen zwingen will. Kaum minder geworfen fühlt sich Quoyle in seinem Dasein. Auf dem Festland scheitert er genauso wie am Schwimmen - das in der amerikanischen Literatur von Benjamin Franklin über William Faulkner bis zu Charles Webbs "Reifeprüfung" eine lange Tradition als Nachweis gesellschaftlicher Existenzberechtigung hat.

Spacey spielt Quoyle als geborenes Opfer, als Mann ohne Innenleben, dem sein Leben zustößt, der ihm zuviel Angriffsfläche und zuwenig Widerstand bietet, dessen stoische Miene die Gefühllosigkeit seiner Umwelt spiegelt und anklagend auf sie zurückwirft. Der Zuschauer muß ihn bemitleiden, möchte ihn bei den verspannten Schultern packen und wachrütteln - und fragt sich verdutzt, wo er plötzlich genug Energie, geschweige denn Phantasie hernimmt, die sexuelle Ekstase zu genießen, die Hallström ihm gönnt. "Petal wärmte Quoyle, wie ein heißer Mund einen kalten Löffel wärmt", heißt es im Buch lakonisch: "Einen Feuermonat lang glücklich, dann sechs verknickte Leidensjahre."

Quoyle arbeitet in einer Zeitungsdruckerei, wo die Tage, die Ereignisse wie auf dem Fließband an ihm vorbeihetzen. Er liebt eine Frau, die "Blütenblatt" heißt und eine verwelkte, faulende Seele hat (brillant gegen den Strich besetzt: Cate Blanchett).

Nach Petals unvermeidlich blutigem Ende und dem Selbstmord beider Eltern, die ebenfalls kein besseres Schicksal verdient haben, tauscht Quoyle den Dauerregen Poughkeepsies im US-Bundesstaat New York gegen eine grandiosere Unwirtlichkeit. Dem Ruf des bösen Blutes seiner Vorfahren und dem Drängen seiner mit Haut und Haaren diesseitigen Tante Agnis (Judi Dench) folgend, bricht er mit ihr und seiner Tochter Bunny gen Norden auf: nach Neufundland, ehemalige britische Kolonie und seit 1949 Provinz Kanadas, wo die Wollmütze zur täglichen Bürokluft gehört und Pionierstolz den Umgang der Menschen miteinander bestimmt.

Während Quoyle das Geschäft des Journalisten erlernt, der jede Erfahrung in eine griffige Schlagzeile zu pressen weiß, in jeder Schiffsmeldung eine Story sieht und jeden Autounfall als Sensation schreibt - zumal wenn es sich um einen fahrlässigen Elch oder um "Hitlers Yacht" handelt -, ringt Proulx' karge, lichte Sprache um Tiefenschärfe. Die flache Leinwand beraubt den Roman einer Dimension: der Hoffnung nämlich, die Welt mit Worten greifbar und damit begreiflich zu machen. Halbfertige Sätze und seltsam unbeholfene Metaphern erzählen eine Landschaft voller solider, sperriger Gegenstände, wo Wetter wie Unwetter die Dichte von Massen haben und trotzdem Raum bleibt - Zwischenraum - für Zeichen und Wunder: für die Auferstehung eines Ertrunkenen oder den Transport eines Hauses quer übers Eis, als suche Proulx eine herbere Variante des südamerikanischen "magischen Realismus".

Quoyles Name, coil ("Seilrolle") ausgesprochen, bezeichnet ein zentrales Motiv: Knoten und Stricke, die ein Haus verankern wie ein Schiff, festzurren wie ein Zelt - und dennoch nicht verhindern können, daß der Sturm es fortreißt. Als wetterfester erweisen sich die Bande, die Quoyles ungeschickte Hände knüpfen: zu seinen Kollegen, den drei Redakteuren der Lokalzeitung, und dem Herausgeber, der öfter in seinem winzigen Boot auf dem Meer sitzt als am Schreibtisch, zu Wavey (Julianne Moore), die die Kinder der Ortschaft betreut, und ihrem geisteswunden Sohn. Bunny zeigt ein geradezu organisches Gespür für Neufundlands Geschichte und Geschichten. Wo andere allenfalls Anker zu werfen hoffen, kann sie in der gefrorenen Erde nicht nur Wurzeln schlagen, sondern auch die Erinnerung an ihre treulose Mutter begraben. Und Agnis, die als Mädchen vor ihrer Zukunft floh, mußte zurückkehren, um den Dämonen der Vergangenheit einen Waffenstillstand abzutrotzen.

In der "Kolonie unerwiderter Träume", wie der gebürtige Neufundländer Wayne Johnston 1998 seine Hommage an die Insel betitelte, siedeln Menschen, deren Haßliebe zu dem "Alten Verlorenen Land" so stark ist, daß sie "an Heimweh kränkeln, noch bevor sie abgereist sind". Die Wirtschaft ist schiffbrüchig, seit vor fünfhundert Jahren die ersten Europäer auf dem Irrweg nach China an der schroffen Felsenküste landeten. Das tuberkulöse Klima und kulinarische Spezialitäten wie Salzfisch und Seehundflossen-Pastete, die selbst der genügsame Quoyle verschmäht, tun ein übriges, die Lebenserwartung zu senken.

Jene Verwaisten und Abgetriebenen, die in "Gottes Werk und Teufels Beiwerk" die Nacht zu "Prinzen von Maine, Königen von Neuengland" erkor, haben hier einen Hafen gefunden.


 
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